Lektüre zum Vertrauen

Jürgen Wertheimer/Niels Birbaumer (2016): Vertrauen. Ein riskantes Gefühl. Salzburg: Ecowin by Benevento Publishing.

Ein Literaturwissenschaftler und ein Neuropsychologe tun sich zusammen, um das Gefühl des Vertrauens zu erforschen, der eine interpretiert dazu Texte der Weltliteratur, der andere referiert Befunde aus Laborexperimenten, Gehirnscans und hormonellen Mustern.

Das Thema Vertrauen hat bisher recht wenig Beachtung gefunden hat, dabei ist das „starke Gefühl des Vertrauens […] der Kitt, der die Welt im Innersten zusammenhält. Umgekehrt ist fehlendes Vertrauen oder glatter Vertrauensbruch wie ein Gift, das organische Zusammenhänge zersetzt und Bindungen auflöst.“ (S. 15) Menschliches Zusammenleben ist ohne Vertrauen kaum denkbar. Aber Vertrauen ist trügerisch und birgt stets die Gefahr enttäuscht und betrogen zu werden, denn Vertrauen wird gerade notwendig, wenn wir die Absichten des Gegenübers nicht sicher kennen. „Derjenige, der Vertrauen schenkt, liefert sich aus. Der, dem Vertrauen geschenkt wird, erfährt einen Machtzuwachs“ (S. 45).

Das Vertrauen lässt sich in eine Reihe von Unterformen aufteilen, wie sensorisches, motorisches und soziales Vertrauen, dazu noch Selbstvertrauen und Gottvertrauen. Das soziale Vertrauen ist das zentrale Thema des Buches. Aber ist Vertrauen überhaupt ein reines Gefühl? Die Autoren machen überzeugend deutlich, dass beim Vertrauen kognitive und emotionale Anteile, Prozesse im limbischen System und im präfrontaler Cortex nicht zu trennen sind. Beim Vertrauen wird erlebbar, dass Fühlen und Denken in schwer beschreibbarer Weise zusammenwirken: Vertrauen hat einerseits mit Erfahrungen, Vermutungen, Überlegungen, Entscheidungen zu tun, anderseits ist es ein Mischgefühl, eine emotionale Gemengelage, in der zahlreiche Komponenten ineinandergreifen: Unsicherheit, Hoffnung, Empathie, Angst, Neid, Eifersucht. Vertrauen ist so etwas wie ein Metagefühl, das andere Gefühle beeinflusst und steuert.

Während die Basisgefühle wie Angst, Wut, Freude, Ekel, Neugier u.a. einen biologisch festgelegten und interkulturell verständlichen Ausdruck haben, ist Vertrauen bisher weder in seinen körperlichen noch in seinen hirnphysiologischen Korrelaten klar nachweisbar. „Soziales Vertrauen ist über weite Strecken des Gehirns in vielen emotionalen und kortikalen Regionen verteilt“ (S. 37). Gemischte Gefühlszustände sind nichtsprachlich wie sprachlich schwer kommunizierbar und bieten deshalb Anlass für zahlreiche Missverständnisse. In Romanen und Dramen werden unzählige Szenarien des Vertrauens, Misstrauens, Vertrauensbruchs, Verrats und Betrugs durchgespielt, ein Dauerthema, Jürgen Wertheimer kann in die Vollen greifen: Euripides, Shakespeare, Schiller, Kleist, Hofmannsthal, Kafka, Tolstoi, Brecht, Grass und viele mehr. Die Literaturwissenschaft dominiert in dem Buch, Niels Birbaumer kann da oft kaum mithalten. Der Text wirkt an vielen Stellen so, als ob der Literaturwissenschaftler zuerst seine Interpretationen niedergeschrieben hat und dann der Neuropsychologe nach einer Andockstelle sucht, wo er einen Kommentar einfügen kann. Von Kleists „Verlobung in St. Domingo“ zum Bindungshormon Oxytozin ist es dann nur ein Sprung. Der Text wirkt oft additiv, nicht integrativ.

Schauen wir uns das Kapitel 2 genauer an, das eine theoretische Basis für die folgenden Kapitel legt. Der heimelige Begriff des Urvertrauens (basic trust bei Erik Erikson) wird auf den Prüfstand gestellt. Ergebnis: „Die Wahrheit ist, es gibt kein Urvertrauen. Die Kunst des Vertrauens ist das Produkt eines langwierigen und extrem aufwändigen Erfahrungs- und Erarbeitungsprozesses“ (S. 42). Der fängt schon im Uterus an, das zeigen Untersuchungen der Hirnaktivität beim fetalen emotionalen Lernen, die der Neuropsychologe referiert. Jetzt setzt der Literaturwissenschaftler ein und interpretiert Passagen aus „Tristram Shandy“ von Laurence Sterne und der “Blechtrommel“ von Günther Grass, danach ein Fallbericht des Neurologen Oliver Sacks. Dabei geht es um den Verlust sensorischen Vertrauens, mit der Entwicklung des sozialen Urvertrauens haben diese Passagen nur am Rande zu tun. Dann setzt der Neuropsychologe mit einigen Sätzen zu Schizophrenie und Demenz ein, gefolgt von Erkenntnissen zur Repräsentation von sozialen Vertrauen im Gehirn und der Oszillationen von verteilten Zellensembles. Daran schließen sich Interpretation von Karl Philipp Moritz, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal und schließlich Saint-Exupéry an, die unsere Vertrauensbedürftigkeit und -süchtigkeit aufzeigen. Alles interessant, aber sie liefern kein schlagendes Argument gegen den „Mythos Urvertrauen“. Auch bei Erik Erikson ist das Urvertrauen ja keine angeborene Mitgift, sondern entsteht in krisenhaften Auseinandersetzungen mit der sozialen Umwelt. Dabei kann auch ein Ur-Misstrauen entstehen, aber zu behaupten, es gibt überhaupt kein Ur-Vertrauen, leugnet die Möglichkeit einer verlässlichen und liebevollen Zuwendung als Urgrund einer Vertrauensbereitschaft, die allerdings im weiteren Leben immer wieder enttäuscht werden kann.

Konsequent problematisiert ein späteres Kapitel auch die Familie als Hort des Vertrauens. Hier wird unterstellt, dass Vertrauen eher ein Synonym „für Trägheit, Gewohnheit und Bequemlichkeit“ darstellt. Man muss einfach vertrauen und forscht lieber nicht weiter nach, um die „Vertrauensidylle“ nicht zu gefährden. Diese Hypothese wird nur an literarischen Beispielen diskutiert, hier vor allem an „Anna Karenina“ von Tolstoi. Die Psychologie pfropft nur einen letzten Absatz zum impliziten, d.h. nicht bewussten Lernen von Vertrauen auf, der zum Thema Familie gar nichts beiträgt.

An diesem – wie auch an anderen Kapiteln – wird deutlich, dass sich naturwissenschaftliche Befunde und geisteswissenschaftliche Interpretationen nicht einfach ergänzen. Jürgen Wertheimer lässt selten eine Gelegenheit aus, um zu sticheln, wie dürftig psychologische und neurologische Forschungen der Gefühle gegenüber den Beschreibungen und Erklärungen der Literatur ausfallen. Und er hat recht: Die in den Sozialwissenschaften beliebte “Boxologie“ mit Kästchen und deren Verknüpfung mit Pfeilen wirkt zwar ordnungsstiftend, aber auch reduktiv gegenüber der sozialen Wirklichkeit, trotz einer Kaskade von Variablen: Risikobereitschaft, Betrugsaversion, Bereitschaft zu verzeihen (Forgiveness), Vertrauensinvestment, Ängstlichkeit, Kooperationsbereitschaft, Gerechtigkeitssinn, Sensibilität für Betrug, Vertrauenserwartung, Labilität, Verlustängste usw. Die literaturwissenschaftlichen Interpretationen sind klug, aber der empirische Stellenwert der Texte wird nicht hinterfragt. Literatur ist ja keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern doppelt gebrochen, durch den Autor und den Interpreten. Manchmal beschleicht den Lesenden der Eindruck, dass für vorgefasste Hypothesen selektiv literarische Belege herausgefischt werden.

Die Lektüre ist überaus anregend, aber es bleibt Patchwork, ein argumentativer roter Faden ist nur schwer erkennbar. „Vertrauen will erlernt sein“, so lautet der letzte, zusammenfassende Satz. Das Buch ist in einem Verlag der Red Bull Media House GmbH erschienen und macht deren Slogan alle Ehre: „Bücher, die den Geist beflügeln.“ (01.12.2016)

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