Erinnerungskultur

Wer durch Tübingen spaziert, der wird an einigen Pfosten von Straßenschildern einen Knoten finden. Der soll darauf hinweisen, dass die Person, nach der die Straße benannt ist, historisch mit Antisemitismus, Kolonialismus oder Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird und als belastet gilt. Ist in diesen Fällen eine Ehrung durch einen Straßennamen vertretbar? Die Ehrung mit einem Straßennamen geschieht nach bestimmten politischen, gesellschaftlichen und ethischen Wertvorstellungen, die sich wandeln. In Tübingen wurde dazu eine Kommission eingerichtet, die 14 Straßennamen unter die kritische Lupe nimmt.

Ein Betroffener ist der Tübingen Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Er lehrte von 1946 bis 1950 an der Universität Tübingen. Er war damals ein wichtiger Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der sich für das humanistische Gymnasium und die Lehrerausbildung einsetzte. Hauptwerke sind „Lebensformen“ (1921) und „Die Psychologie des Jugendalters“ (1924). Ab 1933 war er Mitglied des Kampfbunds Stahlhelm, der im selben Jahr in die SA integriert wurde. Er war zwar nicht in der NSDAP, aber kann als demokratieskeptischer Nationalist und Militarist, Antisemit und Sympathisant der Nationalsozialisten bezeichnet werden. Wer seine Vita durchliest, der wird eine durchwachsene Mischung aus Erkenntnissen, Weisheiten, Irrtümern, Fehleinschätzungen, Vorurteilen usw. finden, wie sie bei vielen aktiven Menschen vorkommt. Auch ich möchte in keiner Goebbels-Straße oder in einem Mengele-Weg wohnen. Aber wenn wir bei Straßennamen nach reinen Lichtgestalten suchen, dann werden wir in Zukunft nur noch durch Straßen gehen, die nach Blumen, Vögeln und Bäumen benannt sind. (21.07.2022)

Die Idee der Verknotung stammt aus einem Wettbewerb der Hochschule für Kommunikation und Gestaltung Stuttgart von Milena Scher und Vanessa Cataldo. Foto: St.-P. Ballstaedt

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