Author Archive | SP Ballstaedt

Historischer Humor 18

Das Wort „Aberwitz“ knüpft an die ursprünglich Bedeutung von Witz als Verstand und Klugheit an, das Präfix „aber“ kehrt die Bedeutung um in Irrsinn, Unverstand, Unsinn, auch Wahnwitz. Für Genderinteressierte: Das Wort aus dem 14. Jh. war bis ins 17. Jh. ein Femininum, erst danach wurde es zum Maskulinum. Dieselbe Wortbildung findet man bei Aberglaube.
Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet sich ein entsprechendes Zitat von Wieland: „…dasz es zum besten der menschlichenGesellschaft gereiche, wenn der vernunft und dem witze, folglich auch der der unvernunft und dem aberwitze volle freiheit gelassen werde.“
Die Lust am Unsinn bedienen absurde Witze, z.B. Irrenwitze und Paradoxwitze, die die Wirklichkeit und die Logik völlig auf denKopf stellen. Lutz Röhrich spricht von surrealistischen Witzen, sie haben aber mit dem Surrealismus als Kunstrichtung nichts zu tun. In den USA gibt es seit etwa 1940 ein eigenes Genre, die „Shaggy Dog Stories“, weil oft Tiere, speziell Hunde eine Rolle spielen. Jeder kennt einen Witz mit dem Anfang: „Kommt ein Hund in die Bar….“ Ein Witzbeispiel (ausRöhrich, 1977, S. 127/128):

Ein Mann spielt mit seinem Hund Schach. Ein zweiter Herr tritt hinzu und meint „Sie haben aber einen klugen Hund!“ Worauf der Schachspieler antwortet: „Wieso, er hat doch schon zwei Partien verloren.“

Eine aberwitzige Situation wird als selbstverständlich vorausgesetzt, die überraschende Pointe ist für einen Witz typisch. (09.11.2024)

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New Adult

Eine Kernmaxime der Kommunikationswissenschaft lautet: Spreche und schreibe adressatenorientiert!

Auf der Frankfurter Buchmesse war eine Halle der New-Adult-Literatur gewidmet, das sind Romane für junge Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren. Vor allem schreiben Autorinnen vorwiegend für weibliche Lesende. Die Protagonisten der Texte befinden sich im selben Alter, entsprechend altersspezifisch sind die Themen: Beziehungen, Sexualität, Beruf, Studium, Selbstverwirklichung und aktuell Cyber-Mobbing, Bodyshaming, Genderfluidy, Drogenkonsum, Partnerbörsen und Dating. Eine Unterkategorie sind Dark Romance-Romane, gefährliche Leidenschaften mit Bad Boys.

Dass es Bücher für Kinder und Jugendliche gibt, ist verständlich, denn hier liegen besondere kognitive und emotionale Befindlichkeiten vor, aber müssen junge Erwachsene auch mit einer eigenen Literatur bedacht werden? Muss es eine Literatur speziell für Frauen oder Männer geben? Gibt es einmal Regale mit Büchern ab 30, ab 40, ab 50 usw. Gute Literatur bearbeitet Probleme, die alle Menschen betreffen, es geht um die condition humaine, auch wenn es natürlich Fokussierungen auf bestimmte Probleme gibt. Bei dem Genre New Adult geht es vor allem um Marketing, man will mit dieser Trivialliteratur neue Leserkreise erreichen. (02.11.2024)


Das Angebot für junge Erwachsene ist kaum noch überschaubar. Screenshot eines Ausschnitts im Internet.

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Sehr witzig

Humor wird als positive Eigenschaft gesehen, als humorlos will keiner gelten. Witze werden hingegen als gut, schlecht, primitiv usw. beurteilt. Aber wie hängen Humor und Witz zusammen? Ein Mensch kann viele Witze auf Lager haben, aber trotzdem vollständig humorlos sein. Anderseits gehören etliche Witze zweifellos zum Humor. Witz wurde früher einem Menschen zugesprochen, der geistreiche, kluge und schlagfertige Äußerungen machen konnte. Zum Thema Humor und Witz liegt ein Büchlein mit zwei Vorträgen vor:

Sven Regener: Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur. Berlin: Galiani, 2024. 

Die Vorträge des Musikers (Element of Crime) und Romanautors (Herr Lehmann) sind anregend, aber einigen Behauptungen würde ich widersprechen, z.B.: Es gibt keinen freundlichen Humor (S.20), Humor bedarf der Sprache (S.23), Humor befreit von Gefühlen (S. 27). Mir ist auch unklar, warum zwei Begriffe aus der Psychopathologie bemüht werden, um die Pole der Humorskala zu kennzeichnen: In der Depression geht jeder Humor verloren, in der Witzelsucht wird alles zwanghaft lustig gefunden. Der Autor schlägt eine Kategorisierung des Humors vor, die – wie alle diese Einteilungen- nicht ganz trennscharf ausfällt:

Übler Humor, auch treffend Mobbing-Humor genannt, da er Witze auf Kosten von Schwächeren und Minderheiten macht. Alle finden diesen Humor bedenklich, lachen aber z.B. im politischen Kabarett, wenn Politiker als Deppen dargestellt werden. Es muss nur die „Richtigen“ treffen, dann finden wir diese Witze lustig.

Flacher Humor, das ist die Kategorie der Kapifu-Witze , Regener nennt sie Arsch-Kacke-Pups-Witze. Man findet diese Witze niveaulos, aber lacht doch gern über sie, immerhin sind sie nicht böse, sie  behandeln Tabubereiche und dienen der Triebabfuhr. Ein regressives, aber harmloses Vergnügen.

Guter Humor, die „Königsdisziplin“, bei dem man sich selbst auf die Schippe nimmt und die Rezipienten indirekt dazu veranlasst, auch über sich selbst zu lachen. Dieser Humor schafft Distanz zur eigenen Existenz, zu eigenen Sorgen und Nöten.

Nach meine Verständnis ist eigentlich nur die dritte Kategorie Humor, ohne die Witze der anderen Kategorien abzuwerten, denn sie erfüllen viele soziale Funktionen. Und tatsächlich gibt es auch humorvolle Witze. (29.10.2024)

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Visueller Triumph

Ein Bild, wie aus einem Zombie-Film: Der Hamas-Führer Jahia Sinwar sitzt aschgrau und gebückt in einem Sessel, das Palästinensertuch über dem Mund und schaut über die Schulter auf eine Drohne, die durch durch das zerbombte Gebäude auf ihn zuschwebt, mit der linken Hand wirft er einen Stock nach ihr. Dann sprengt das israelische Militär das Haus in die Luft. https://www.youtube.com/watch?v=h5vOUQysr30

Ein Video, das in die Geschichte eingehen wird. Ähnliche Bilder zeigen die Hinrichtung von Saddam Hussein durch den Strang oder die blutverschmierte Leiche von Muammar al-Gaddafi. Ich habe kein Mitleid mit diesen Diktatoren und Warlords, aber etwas unheimlich sind mir die Bilder trotzdem. Sie haben etwas Archaisches an sich: Die Freude, der Triumph und die Rache beim Anblick des sterbenden oder toten Feindes. Lektüretipp: Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser, 2003. (22.10.2024)

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Auratisch

Das Jugendwort 2024 lautet „Aura“. Wie jedes Jahr wird das Oneline-Voting kritisiert und viele Jugendliche geben an, das Wort weder zu gebrauchen, noch gehört zu haben. Aber in einigen Subkulturen ist wohl doch gebräuchlich, vor allem in einer negativem Variante, als Minus-Aura. Was überrascht: Das Wort ist keine Neuschöpfung, sondern alt und es wird auch in seiner Bedeutung verwendet. Die Aura ist  die persönliche Ausstrahlung, die eine Person auf andere ausstrahlt.

Ursprünglich ist Aura im Griechischen der Name für die Göttin der Morgenbrise. Im Lateinischen bezeichnet Aura einen Luftzug, oft verbunden mit einem Duft, neu dazu kommt die Lichtaura, wie sie z.B. in einem Heiligenschein sichtbar wird. Die Bedeutung weitet sich auf Personen aus, die eine bestimmte Wirkung auf ihre Umgebung ausüben, vergleichbar dem Charisma. In der Ästhetik wird die Aura auch auf Gegenstände bezogen. Bei Walter Benjamin umgibt jedes originale Kunstwerk eine Aura der Echtheit und Einmaligkeit, die bei der technischen Reproduktion z.B. als Foto verlorengeht.

Es ist also überraschend, dieses schöne Wort in der Jugendsprache wiederzufinden, auch wenn es hier als wertende Maßeinheit verwendet wird: Eine missliebige Person hat minus 1000 Aura, ein sehr beliebter Popstar plus 5000 Aura. (20.10.2024)

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Vollbusig

Vor Jahren habe ich in einem Praktikum mit Studierenden eine Inhaltsanalyse zu Kontakt- und Heiratsanzeigen durchgeführt, als Übung zu empirischem Forschen. In einer großen Stichprobe von Anzeigen verschiedener Zeitungen sollte ausgezählt werden, mit welchen Eigenschaften sich Männer und Frauen sprachlich präsentieren oder nach welchen sie suchen. Die Befunde habe ich vergessen, aber wir haben uns damals gewundert, wie viele warmherzige, tierliebe, häusliche, naturverbundene, humorvolle, einfühlsame Personen doch unter uns leben. Auffällig waren auch die erotischen Attribute, die man sich zuschrieb oder sich bei anderen wünschte.

Heute beobachte ich den Trend, dass immer mehr ältere Personen, zwischen 65 bis 80 Jahren, auf Partnersuche gehen. Und da fällt auf, dass sich Frauen immer noch erotisch anpreisen: feminine Ausstrahlung, schlanke, weibliche oder sogar traumhafte Figur, bezaubernd hübsch, große Oberweite, frauliche Rundungen oder vollbusig (welch schönes Wort). (17.10.2024)

Das Thema Einsamkeit spielt eine zunehmende Rolle in unserer Gesellschaft. Scan aus eine Tageszeitung.

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Aufmerksamkeit

Durch reinen Zufall bin ich auf ein Gemälde der schwedischen Malerin Hanna Pauli (1864 – 1949) gestoßen, das mich sofort beeindruckt hat. Es hat den Titel »Sohn Göran, 3 Monate, entdeckt zum ersten Mal die Kerzenflamme« (1891). Der interessierte und verwunderte Blick des Babys ist auf eine flackernde Flamme ist perfekt eingefangen, die Lichtgestaltung zeigt den Einfluss des Impressionismus, die Malerin war mehrfach zu Studien in Paris. (12.10.2024)

Das Portraitbild ist klein, nur 40 x 32 cm, der Gesichtsausdruck des Babys, das seine bewegte visuelle Umwelt erkundet, ist eindrücklich dargestellt. Quelle: https://www.wikidata.org/wiki/Q18602044

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Lesemotivationen

Seit zwei Jahren bin ich in einem Literaturkreis, der einmal in der Woche online tagt und mehrere Wochen über einen oder anhand eines Romans diskutiert. Dabei bin ich immer wieder überrascht, wie viele Lesarten und Interpretationen ein Text bewirken kann. Es gibt meiner Ansicht nach vier grundlegende Lesemotive, die bei jedem Roman eine Rolle spielen, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung.

Unterhaltung. Im Jargon der Literaturwissenschaftler auch als Eskapismus oder Kompensation bezeichnet. Der oder die Lesende möchte vom Alltag abschalten, kleine Fluchten in andere Welten antreten und vielleicht auch Spannung und Erregung verspüren, die in den Routinen des Alltags fehlen. Das dürfte die zentrale Motivation für Krimis und erotische Lektüre sein, aber auch Fantasie und Humor fördern die Lust am Text.

Lebenshilfe. Der oder die Lesende möchte durch die Literatur sein oder ihr eigenes Leben reflektieren. Man identifiziert sich mit einer Figur (so möchte ich auch empfinden und handeln) und man hebt sich von anderen Figuren ab (so bin ich nicht und möchte ich niemals sein). Die Auseinandersetzung mit dem Text dient der Identitätsfindung.

Kennenlernen anderer Mentalitäten in der eigenen Kultur (z.B. Künstler, Punker, Kriminelle) oder interkulturell in einer anderen Kultur, die mit Religion, Sexualität, Familie, Aggression, Moral, Sterben ganz anders umgeht. Die Lektüre dient der Relativierung des eigenen Denkens und Handelns, das Einfühlungsvermögen wird dabei trainiert. Von Jan Philipp Reemtsma stammt die treffende Formulierung „Literatur ist anthropologische Kasuistik“, dem Lesenden ermöglicht sie ein „multiples Leben“.

Wissenserwerb. Es wird gelesen, um über Literatur etwas zu lernen, über Geschichte, Land und Leute, z.B. in historischen Romanen oder auch gesellschaftskritischen Texten. Dieses Bedürfnis wird eher durch Sachbücher und Dokumentationen als durch Romane abgedeckt, die immer einen Anteil an Fiktion enthalten.

Diese Lesemotivationen begleiten jede Lektüre, mal dominiert die eine, mal die andere. Und es gibt Lesetypen, bei denen ein Motiv vorherrscht und die einen Roman auch dementsprechend interpretieren und kritisieren. (06.10.2024)

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Schwäbisch

 

 

 

 

 

 

 

Aufkleber am Bus eines Tübinger Handwerkers. Foto: St.-P. Ballstaedt (04.10.2024)

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Verpixelt

Unregelmäßig lese ich die TAZ, die oft (aber nicht immer) einen anderen und frecheren Blick auf die Ereignisse hat. In der Ausgabe vom 1.10. 24 befindet sich eine Rezension des Stückes »Kill Me« der argentinischen Performancekünstlerin Marina Otero, das im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) zu sehen ist. Es handelt sich um den dritten Teil einer Triologie nach »Fuck Me« und »Love Me«. Dabei geht es um psychische Erkrankungen und Suizid. Fünf Tänzerinnen treten nackt nur mit weißen Stiefeletten auf.

Zur Rezension kann ich nichts sagen, ich habe die Aufführung nicht gesehen. Ein Szenenbild ist in der TAZ abgedruckt, auf dem fünf Nackte mit Pistolen auf eine Frau (die Autorin) zielen. Was mir bei näherem Hinsehen auffällt: Die nackten Hintern und ein Genitalbereich sind verpixelt, offenbar glaubt man den Lesenden diesen Anblick nicht zumuten zu können, obwohl die Personen nur 5 cm hoch sind! Ob diese Prüderie im Sinne der radikalen Künstlerin ist, möchte ich bezweifeln. (03.10.2024)

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