Neue Sichtweise

In der Stuttgarter Staatsgalerie wird eine Ausstellung von Portraits und Akten des italienischen Malers Amadeo Modigliani »Moderne Blicke« gezeigt. Seine Portraits werden mit zeitgenössischen Malern in Beziehung gesetzt: Klimt, Schiele Munch, Modersohn-Becker, Lehmbruck. Interessant ist eine neue Sichtweise und Interpretation der Frauenbilder: Der Maler wird als „Chronist eines erstarkenden weiblichen Selbstbewusstseins“ vorgestellt, denn die Frauen im Kurzhaarschnitt und oft in Männerkleidern schauen die Betrachtenden oft mit skeptisch schräg gestelltem Kopf direkt und selbstbewusst an. Sie wirken als eigenständige Persönlichkeiten, nicht als erotische Projektionen des Malers. Obwohl die Gesichter stilisiert sind, vor allem die Augen- und die Mundpartie, kann man zu jedem Bild den Charakter der gemalten Person ablesen.
Die Akte, die damals abgehängt werden mussten, weil sie als skandalös galten, werden heute neu gesehen und bewertet. Die meisten Bilder sind übrigens bei der Google-Suche durch SafeSearch zunächst wegen „anstößiger Inhalte“ unkenntlich gemacht. Auffällig ist, dass der Unterkörper der Frauen mit Gesäß und Becken überproportional vergrößert abgebildet ist: Die Unterschenkel und die Arme sind oft angeschnitten und werden nicht gezeigt. Dadurch fixiert das Auge spontan Brüste und Schamdreieck. Man kann das als Betonung des Sexuellen deuten, aber heute schaut man auf die Gesichter, die die Betrachtenden selbstbewusst anschauen: „Im Einklang mit der jüngsten Forschung wird deutlich, dass Modigliani seine Modelle nicht zu Objekten degradiert, sondern sich ihnen in einem von Gleichberechtigung geprägten Verhältnis nähert.“ (Flyer zur Ausstellung). Wie das die Forschung wohl herausbekommen hat?  (15.01.2024)


Amadeo Modigliani: Nu couché (1917). Die Extremitäten angeschnitten, die Augen zugewandt, aber geschlossen, wie so oft bei diesem Maler. Quelle: Christie’s sale, New York 9.11.2015, Wikimedia Commons

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