Seit zwei Jahren bin ich in einem Literaturkreis, der einmal in der Woche online tagt und mehrere Wochen über einen oder anhand eines Romans diskutiert. Dabei bin ich immer wieder überrascht, wie viele Lesarten und Interpretationen ein Text bewirken kann. Es gibt meiner Ansicht nach vier grundlegende Lesemotive, die bei jedem Roman eine Rolle spielen, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung.
Unterhaltung. Im Jargon der Literaturwissenschaftler auch als Eskapismus oder Kompensation bezeichnet. Der oder die Lesende möchte vom Alltag abschalten, kleine Fluchten in andere Welten antreten und vielleicht auch Spannung und Erregung verspüren, die in den Routinen des Alltags fehlen. Das dürfte die zentrale Motivation für Krimis und erotische Lektüre sein, aber auch Fantasie und Humor fördern die Lust am Text.
Lebenshilfe. Der oder die Lesende möchte durch die Literatur sein oder ihr eigenes Leben reflektieren. Man identifiziert sich mit einer Figur (so möchte ich auch empfinden und handeln) und man hebt sich von anderen Figuren ab (so bin ich nicht und möchte ich niemals sein). Die Auseinandersetzung mit dem Text dient der Identitätsfindung.
Kennenlernen anderer Mentalitäten in der eigenen Kultur (z.B. Künstler, Punker, Kriminelle) oder interkulturell in einer anderen Kultur, die mit Religion, Sexualität, Familie, Aggression, Moral, Sterben ganz anders umgeht. Die Lektüre dient der Relativierung des eigenen Denkens und Handelns, das Einfühlungsvermögen wird dabei trainiert. Von Jan Philipp Reemtsma stammt die treffende Formulierung „Literatur ist anthropologische Kasuistik“, dem Lesenden ermöglicht sie ein „multiples Leben“.
Wissenserwerb. Es wird gelesen, um über Literatur etwas zu lernen, über Geschichte, Land und Leute, z.B. in historischen Romanen oder auch gesellschaftskritischen Texten. Dieses Bedürfnis wird eher durch Sachbücher und Dokumentationen als durch Romane abgedeckt, die immer einen Anteil an Fiktion enthalten.
Diese Lesemotivationen begleiten jede Lektüre, mal dominiert die eine, mal die andere. Und es gibt Lesetypen, bei denen ein Motiv vorherrscht und die einen Roman auch dementsprechend interpretieren und kritisieren. (06.10.2024)