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KI-Pinocchio

ChatGPT, jetzt GPT-4 erregt die Gemüter der Feuilletonisten. Es ist auffällig, dass man vor allem nach Schwachstellen sucht: Wo macht das System einen Fehler? Es gibt Überschriften „Wie die KI das Lügen lernt“ oder „Der Pinocchio, der aus KI gemacht ist“. Ein Programm kann nicht lügen, dieser Sprechakt der absichtsvollen Falschaussage ist den Menschen vorbehalten. Das Programm stellt nur Zeichenketten nach statistischen Wahrscheinlichkeiten zusammen, die Wahrheit spielt dabei keinerlei Rolle. Deshalb kann es auch zu fiktiven „Fakten“ kommen, die KI-Experten sprechen von Halluzinationen. Diese treten vor allem in Closed Domains auf, also bei Themen, zu denen wenig Texte zum Training vorhanden waren. Man arbeitet daran, ein Factchecking über Suchmaschinen zu integrieren, um Halluzinationen zu verringern.

Bei den kritischen Texten über ChatGPT kann man zwischen den Zeilen auch eine gewisse Genugtuung herauslesen, dass die Algorithmen eben doch nicht so intelligent sind wie die natürliche Intelligenz des Menschen. Obwohl ja Lügen, Fake News, Desinformation, Manipulation usw. humane Kernkompetenzen darstellen. (30.03.2023)

Diese Bild hat Stable Diffusion auf die Prompts „Pinocchio Long Nose Computer“ generiert.

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Gelocktes Schamhaar

In Florida wurde einer Lehrerin gekündigt, weil sie ohne schriftliche Erlaubnis der Eltern den Schülern und Schülerinnen (!) im Unterricht eine Abbildung der David-Statue von Michelangelo gezeigt hat. Ist die Skulptur Kunst oder Pornografie, darüber wird jetzt debattiert! Ein selbstbewusster nackter Mann der Renaissance, der gerade das Wurfgeschoss in Stellung bringt, um einen Stein auf Goliath zu schleudern. Aber man sieht sein drolliges Gemächt mit schön gelocktem Schamhaar. Das ist Jugendlichen offenbar nicht zuzumuten, die in der Pause auf ihren Smartphones Hardcore-Pornos anschauen. (29.03.2023)

Eine klassische Schönheit, was den Betrachtenden dabei durch den Kopf geht, scheint doch sehr unterschiedlich zu sein. Quelle: Wikimedia Commons

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Tauben im Gras

Dieser Romantitel von Wolfgang Koeppen ist derzeit in allen Feuilletons und Kultursendungen zu lesen und zu hören, er soll zur Abitur-Pflichtlektüre der beruflichen Gymnasien werden. Eine schwarze Englischlehrerin hat ihn gelesen und darin Wörter gefunden, die rassistisch sind. Das ist auch kein Wunder: Der Roman spielt in der Nachkriegszeit (1949-1951) in einer deutschen Großstadt (vermutlich München), in der auch schwarze Soldaten der US Army stationiert sind. Sie werden von einem Teil der Bevölkerung sprachlich und moralisch diskriminiert. Der Roman ist eindeutig antirassistisch, er zeigt, wie sich Rassismus in einer Gesellschaft einnistet und welche Auswirkungen er hat. Also eigentlich doch eine in unsere Zeit durchaus passende Lektüre. Aber zahlreiche Organisationen und Personen haben sich gegen dieses Buch als Pflichtlektüre ausgesprochen.

Pädagogen, Politiker und Literaturwissenschaftler haben sich zum Thema geäußert. Was dabei auffällt: Wir wissen ja aufgrund von Untersuchungen, dass es um die Kompetenzen, Texte zu verstehen und zu interpretieren, bei unseren Schülern und Schülerinnen nicht so weit her ist. Kann man Abiturienten also nicht zumuten, einen historischen Roman einzuordnen und als antirassistisch zu verstehen? Zudem unter Anleitung von Pädagogen. Aber da lese ich, zum Umgang mit diesem Thema gäbe es keine Unterrichtskonzepte, da wären erst Fortbildungen und begleitende Materialien notwendig. Als ob der Roman der erste wäre, der Rassismus thematisiert! Allerdings ist der Roman keine einfache Lektüre, da er keine chronologische Geschichte erzählt, sondern viele Personen und Handlungsstränge miteinander verknüpft. Sind auch die Lehrkräfte mit einem anspruchsvollen Text überfordert? (27.03.2023)

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Weniger ist mehr

Wer ein richtiges und gutes Leben in Zeiten des Klimawandels und des Umweltschutzes führen möchte, der sieht sich mit erheblichen Anforderungen an sein Verhalten konfrontiert: Sein Leben soll achtsam, resonant, entschleunigt, emphatisch, sensibel, nachhaltig und suffizient sein. Das Wort Insuffizienz war mir bekannt, Suffizienz war mir neu (lateinisch sufficere = ausreichen, genügen). Es bezeichnet einen möglichst geringen Ressourcenverbrauch an Rohstoffen und Energie. Das klingt nach Beschränkung und Verzicht und steht im Widerspruch zur Wachstums-, Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft, die ein ganz anderes Verhalten voraussetzt.

Neu sind die ethischen Anforderungen nicht. Unter Minimalismus wird allgemein eine Weltanschauung verstanden, die sich im Leben auf das Notwendige und Unverzichtbare beschränkt: Ein einfaches Leben, wenig Besitz, wenig Konsum, Selbstversorgung usw. Derartige Lebensstile haben schon viele antike Philosophen und Religionsstifter vertreten, allerdings nicht unter dem geopolitischen Handlungsdruck von heute. (09.03.2023)

Das Tiny House ist ein aktuelles Beispiel für minimalistisches und nachhaltiges Wohnen. Der Trend geht allerdings in die andere Richtung: Die beanspruchte Wohnfläche pro Kopf nimmt zu. Foto: Wikimedia Commons

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„Du siehst toll aus!“

Heute am 1.3.2023 ist der Welttag des Kompliments. Ein Anlass über diesen Sprechakt zu schreiben, der aus der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht wegzudenken ist, aber oft als unwahrhaftig und diskriminierend empfunden wird.

Etymologisch stammt das Wort vom lateinischen Verb „complere = erfüllen“ ab. Ob es im 16. Jahrhundert aus dem Spanischen (complimiento) oder im 17. Jahrhundert aus dem Französischen (compliment) entlehnt wurde, ist nicht ganz geklärt. Ein Kompliment ist eine positive, wohlwollende, höfliche Äußerung gegenüber einer Person, die eine Eigenschaft oder Leistung hervorhebt. Da Lob bzw. Anerkennung der wirksamste soziale Verstärker ist, also zunächst etwas Gutes.

Problematisch wird das Kompliment als Bestandteil des Einschmeichelns, Speichelleckens oder der Arschkriecherei. Besonders bei der männlichen Balz einer Frau gegenüber spielen Komplimente eine wichtige, aber auch schwierige Rolle. Wenn sie sich auf das Äußere beziehen sind sie bei Feministinnen nicht mehr angesagt. Nach eine älteren Umfrage im Fachblatt Men’s Health hören Frauen gern „Du riechst unheimlich gut“ oder „Ich liebe dein tolles Lächeln“. Freiherr von Knigge, der mit seinem Bestseller „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) kein „Complimentir-Buch“ verfassen wollte, schreibt: „Weit entfernt bin ich also, das System solcher Leute empfehlen zu wollen, die jeden ohne Unterlaß mit leeren Komplimenten, Schmeicheleien oder Lobsprüchen in die Verlegenheit setzen.“

Wenn man keine oder zu wenig Komplimente bekommt, ist Fishing for compliments eine beliebte Taktik: Man setzt seine eigene Leistung herab oder bekennt eine Schwäche in der Hoffnung, damit positive Rückmeldungen auszulösen: „Heute ist mir die Suppe nicht so gut gelungen.“ Oder im akademischen Kontext: „Leider fehlte mir die Zeit, den Vortrag solide vorzubereiten.“ (01.03.2023)

Ein Standardwerk der Soziologie: Alphons Silbermann: Von der Kunst der Arschkriecherei. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998. Coverfoto: St.-P. Ballstaedt

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Gender Gap

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angewiesen, dass die „Damen- und Herrenausführungen“ des Bundesverdienstkreuzes in der Größe angeglichen werden. Bisher waren die Ordenszeichen für Frauen kleiner und nicht am Bande, sondern an einer Schleife. Symbolisch wird somit der Verdienst der Frauen ebenso gewichtet wie der der Männer. Das sollte ein Anlass sein, auch den materiellen Verdienst der Frauen zu vergrößern. Noch immer herrscht ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle von 18 Prozent zwischen Männern und Frauen. (26.02.2023)

Das Bundesverdienstkreuz ist die höchste Auszeichnung des Staates für Verdienste um das Gemeinwohl. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Fuchteln

„Kadyrow fuchtelt im Staats-TV mit geladener Waffe herum“ (Meldung FR vom 17.2.2023). Woher kommt das Verb „fuchteln“? Das Substantiv dazu hat sich in der Redensart erhalten: „Er steht unter ihrer Fuchtel“ (oder natürlich umgekehrt). Im 16. Jahrhundert ist eine Fuchtel ein Degen mit breiter Klinge, eine Ableitung des Verbs „fechten“ (wie Windel von winden oder Spindel von spinnen). „Fuchteln“ bedeutet mit der Klinge hin und her schwingen. Mit einer flachen Klinge wurden strafende Schläge ausgeteilt, eine symbolische Geste militärischer Unterordnung. Später auch auf den zivilen Bereich übertragen, z.B. die Erziehung. Das dazugehörige Adjektiv „fuchtig“ im Sinne von zornig, aufgebracht, unwillig ist ausgestorben (25.02.2023)

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Nette Toilette

Sauber gegendert in einem Tübinger Pissoir. Zum Vergrößern ins Bild klicken. Foto: St.-P. Ballstaedt (14.02.2023)

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Artifizielle Texte

Mit der Freigabe des ChatGPT hat die Forschung zur Künstliche Intelligenz (KI) einen Paukenschlag gelandet: Computer schreiben nach Vorgaben artifizielle Texte, die von menschlichen Texten kaum zu unterscheiden sind. Die Feuilletons aller Zeitungen berichten über das neue Angebot und unzählige Nutzer testen die Software mit immer gewagteren Aufgaben. Mich hat ein Schulkamerad bereits Weihnachten mit einer Weihnachtsgeschichte im Stil von Heinrich Böll gefoppt, die ChatGPT generiert hat.

Die Leistung von ChatGPT beruht auf einer Kombination von maschinellem Lernen und natürlicher Sprachverarbeitung. GPT steht für Generative Pretrained Transformer: Als Material dient eine Unmenge an Texten, die im Web ja nicht schwer zu finden sind: Bücher, Gedichte, Blogeinträge, wissenschaftliche Publikationen, Websites usw. Aus dem Textmaterial analysiert und lernt der Roboter nicht Inhalte, sondern sprachstatistische Zusammenhänge, die er dann für die Generierung neuer Texte nutzt. Da ich selbst jahrelang an Problemen der Textstruktur und Textkohärenz gearbeitet habe, überrascht mich die Leistung nicht so sehr. Wie Wörter zu Sätzen und Sätze zu Texten verknüpft werden, das ist gut erforscht und kann deshalb auch in Algorithmen umgeschrieben werden. Es gibt Textschemata, Textsorten, Textgenres, deren Aufbau und Stilmittel von Textanalyseprogrammen erfasst werden können. Dazu einige kritische Gedanken:;

1. Es entsteht das Problem, welche Stichprobe an Texten aus dem Web ausgewertet werden. Gibt es da Kriterien, die für bestimmte inhaltliche Ausrichtungen der Texte sorgen? Werden bestimmte politische Haltungen oder moralische Wertungen bevorzugt. Die TAZ (9.2.2023) berichtet von einem Experiment, bei dem ChatGPT gefragt wird, wie man Pornodarstellerin wird. Der Chatbot rät dringend ab: „Die Pornoindustrie kann gefährlich und ausbeuterisch sein und es gibt oft negative Auswirkungen auf die körperliche und emotionale Gesundheit“. Auch mit ähnlichen Fragen bekommt man keine Karrieretipps, sondern Ermahnungen. OpenAI hat etwas gegen Pornografie. Damit werden aber bestimmte Werte reproduziert.

2. Ob die Aussagen in den neuen Texten faktisch zutreffen, überprüft der Chatbot nicht. Gern erfindet er Fakten, er halluziniert, wie KI-Forscher das nennen. Auf die Frage nach der Autobiografie des Chef der Daimler AG, Dieter Zetsche, nennt der Chatbot: „Ich. Dieter Z. – Ein Leben für das Automobil“. Die Autobiografie gibt es nicht (SPIEGEL 4.2.2023, S. 69). Es werden derzeit Schutzmechanismen eingebaut, mit denen falsche oder diskriminierende Antworten vermieden werden sollen, aber ein Missbrauch bleibt nicht ausgeschlossen.

3. Was ist mit den Urheberrechten der Autoren und Autorinnen, aus deren Textfundus geschöpft wird, ohne dass sie davon einen Ahnung haben. Gut, sie dienen nur als anonyme Datenspender für die Statistik. Aber wer hat die Rechte an den artifiziellen Werken? Muss der Roboter als Urheber eines Textes genannt werden? „Powered by humans“ könnte bald unter einem Text in der Zeitung stehen. Die EU-Kommission will 2024 einen Arteficial Intellingence Act vorlegen, in dem eine Kennzeichnungspflicht verlangt wird.

4. ChatGPT wird wohl bald die üblichen Suchmaschinen ersetzen, denn man kann direkt präzise Fragen und Anforderungen ohne die üblichen Suchwörter stellen. Das ist eine Herausforderung und Bedrohung für unser Bildungssystem. Gerade haben Schulen und Universitäten das Auffinden von Plagiaten gelernt, da kommt eine neue attraktive Möglichkeit, sich mit fremden Federn zu schmücken. ChatGPT hat in den USA bereits schriftliche Examensprüfungen für Mediziner bestanden! Schriftliche Leistungsbeweise wie Hausarbeiten oder Essays werden an Bedeutung verlieren.

5. Wie sieht die Zukunft der Kulturtechnik des Schreibens aus? Schreiben ist nicht nur eine Übersetzung von Wissen in Texten, sondern auch eine Form des Denken. Beim Schreiben sortieren wir Ideen, bewerten Argumente, entwickeln einen roten Faden. Der Schreibroboter denkt nicht, er versteht nicht, er kombiniert nach sprachstatistischen Algorithmen, die er nach langem Training aus vorhandenem Sprachmaterial gewonnen hat. Aber Algorithmen könnten durchaus zu unerwarteten, sozusagen emergenten Produkten führen. Auch die Grammatik ist ja in dem Sinne kreativ, dass aus einem festen Satz an Regeln unendlich viele neue Sätze gebildet werden können. Ist ChatGPT eine Bedrohung der menschlichen Kreativität?

All diese Fragen könnte man ChatGPT einmal stellen. Auf die Antworten kann man gespannt sein. (13.02.2023)

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Der Wust

Manchmal überrascht mich ein Wort oder eine Wendung, die ich spontan ausspreche. Beispiel: „Ich stehe vor einem Wust von Aufgaben.“ Der Wust, woher kommt das Wort? Natürlich fällt der Verdacht auf das Wort„wüst“ und tatsächlich ist es eine Rückbildung aus dem mittelhochdeutschen Adjektiv: “wüeste“ oder dem Verb „wüesten“. „Wüest“ bedeutet öde, einsam, verlassen, unordentlich, das Verb „wüesten“ zerstören, veröden, es hat im Verb „verwüsten“ überlebt. Der Ursprung dieser Wörter liegt aber vermutlich im Lateinischen: „vastus“ bedeutet öde, verlassen, leer. (08.02.2023)

Sandwüste in Libyen: öde, verlassen, leer, einsam, aber nicht ungeordnet. Quelle: Wikimedia Commons

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