Author Archive | SP Ballstaedt

Lektüre zur Typografie

Jan Filek (2013). Read/ability. Typografie und Lesbarkeit. Sulgen: Niggli Verlag.

Moderne Bücher zur Typografie leben aus der Spannung zwischen Gestaltern und Wissenschaftlern. Die Gestalter fühlen sich eher als Künstler, vertrauen auf ihr ästhetisches Feingefühl und urteilen forsch über Leserlichkeit oder Lesbarkeit. Die Wissenschaftler untersuchen in Laborexperimenten das Lesen in Abhängigkeit von typografischen Variablen und leiten daraus praktische Richtlinien zur Gestaltung ab.

Ein Buch, das beide Bereiche aufeinanderprallen lässt, hat der Art Direktor und Designer Jan Filek geschrieben: „Read/ablity. Typografie und Lesbarkeit“. Zuerst wird der Stand der Forschung zum Lesen zusammengefasst, vor allem was Blickbewegungen und Buchstaben- und Worterkennung betrifft. Dann wird die experimentelle Lesbarkeitsforschung kritisch referiert. Schließlich folgt der größte Abschnitt, in dem einzelne Merkmale der Gestaltung, z. B. Buchstabenabstand oder Strichstärke aus typografischer und wissenschaftlicher Sicht behandelt werden.

Was die Lektüre spannend macht: Die Wissenschaft bekommt kräftig den Kopf gewaschen: Immer wieder Schriftvergleiche, die ein oder zwei Variablen untersuchen, aber die Interaktionen zwischen typografischen Variablen außer Acht lassen, z. B. zwischen Schriftart und Schriftgröße. Die im Labor erhobenen Effekte von Schriften auf Diskriminierbarkeit, Lesegeschwindigkeit und Verständlichkeit sind oft geringfügig und häufig widersprechen sich. Fehlinterpretationen z. B. zur Überlegenheit der Serifenschriften führen zu sich zäh haltenden „wissenschaftlich fundierten“ Richtlinien. Da immer mehr Schriften entwickelt werden, z. B. für neue Leseoberflächen wie Monitore, Tablets und Smartphones, ist die Lesbarkeitsforschung ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für experimentelle Psychologen. Aber der Autor lässt keinen Zweifel: Wissenszuwachs und praktischer Nutzen sind gering. Die vielen wahrnehmungspsychologischen Variablen spielen sicher ein Rolle, z. B. beim Lesenlernen, werden aber später von „weichen“ Variablen wie z. B. die Gewöhnung an eine Schrift oder deren Anmutungsqualität überlagert.

Leider endet das Buch abrupt, es fehlt ein Wegweiser, wie eine produktive Zusammenarbeit zwischen Typografen und Wissenschaftlern aussehen könnte.

Dass das Buch in Typografie und Layout exquisit und ungewöhnlich gestaltet ist, versteht sich von selbst. (09.06.2014)

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Facebook ade

Heute habe ich mein Facebook-Konto deaktiviert und die Löschung beantragt. Dahinter steht keine kommunikationspolitische Entscheidung gegen ein soziales Netzwerk, sondern nur die Erkenntnis, dass ich diese Plattform zur Kommunikation schlicht nicht brauche, außer um bei anderen ein wenig herumzuschnüffeln. Ich habe nichts gegen digitalen Klatsch und Tratsch, aber an ihm beteiligen möchte ich mich nicht. (07.06.2014)

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Nackte Haut

Dass Nacktheit einen Eyecatcher darstellt, ist nun wirklich keine neue Erkenntnis, das belegen zahlreiche Werbekampagnen. Zwei Wissenschaftler an der Universität Tampere in Finnland haben in einer Studie mit Hirnströmen (ereigniskorrelierte Potenziale) das neuronale Korrelat dafür gefunden. Im okzipital-temporalen Cortex gibt es ein Areal, das für das Erkennen von Gesichtern bekannt ist, aber auch auf die Wahrnehmung von Körpern reagiert. Bei Präsentation von Bildern verschieden vollständig bekleideter Personen nahm die Reaktion linear mit der Menge an nackter Haut zu. Der Anblick menschlicher Haut wird offensichtlich verstärkt, denn die Reaktion war ausgeprägter als bei Gesichtern. Warum das so ist, darüber kann man nur spekulieren, aber es ist sicher nicht verwegen anzunehmen, dass es etwas mit dem Erkennen von Sexualpartnern zu tun hat. Übrigens: Männer reagieren besonders stark auf nackte Frauen, Frauen zeigen hingegen keine unterschiedlichen Reaktionen auf das Geschlecht der abgebildeten Person. (06.06.2014)

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Verschwunden

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Jetzt übermalt: Harald Naegeli hatte an den Eingang zum Hölderlinturm in Tübingen  eines seiner Strichmännchen gesprayt. In der Graphischen Sammlung der Tübinger Universität liegt als Schenkung sein graphisches Werk. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Und noch ein verschwundener Nägeli in der Münzgasse in Tübingen. Foto: St.-P. Ballstaedt (04.06.2014)

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Altersweisheit

Altersheim

Gesprayt an die Mauer des Pauline-Krone-Pflegeheims in Tübingen. Nach einigen Wochen überstrichen, wieder aufgesprayt und wieder sofort entfernt. Offenbar ein untragbarer Spruch. (04.06.2014)

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In memoriam

Alzheimer

Im Haus der heutigen alten Mensa wohnte Alois Alzheimer als Student. Eine Tafel erinnert dort an die Entdeckung der Krankheit, die er erstmals an der Psychiatrischen Universitätsklinik vorstellte. (04.06.2014)

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Furzkissen

Über Bernhard Grzimek, den Tierforscher und ehemaligen Direktor des Frankfurter Zoos, habe ich gelesen, dass er Tiere, Frauen und Furzkissen liebte. Er hatte große Freude daran, Menschen mit diesem Scherzartikel zu necken. Dieses einfältige Vergnügen hat immer noch Anhänger: Bei Amazon kann man zwischen unterschiedlichen Modellen wählen, aber alle mit derselben Technologie: Ein Gummissäckchen mit Ventil, beim plötzlichen Entweichen der Luft durch eine äußere Belastung wird ein pupsartiges Geräusch erzeugt.

Nach Recherchen des Humorforschers Paul McDonald von der Universität von Wolverhampton handelt der erste überlieferte Witz der Menschheit von einer Frau, der zur Unzeit ein Furz entweicht. Vor etwa 4000 bei den Sumerern. Also schon damals war diese multimodale, auditive und olfaktorische Kommunikation peinlich. Im Mittelalter waren die Sitten dann deutlich flatulenzfreundlicher. Norbert Elias berichtet, wie das Furzen an der Öffentlichkeit im Prozess der Zivilisation tabuisiert wird. Da es heute als unschicklich und belästigend empfunden wird, bleibt der Einsatz des Scherzartikel ein kleiner Tabubruch: Gelacht wird über jeden Furz. (24.05.2014)

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Kuschelgruppen

Fremde Menschen treffen sich unter Anleitung einer Trainerin zum Schmusen auf einem Matratzenlager. Vier Stunden lang! Darüber berichtet ein Artikel im Schwäbischen Tagblatt. Nun gehört Körperkontakt zu den Grundbedürfnissen des Menschen, aber die haptische Kommunikation ist gewöhnlich in erotische Kontexte eingebettet. Hier aber gerade nicht, es herrscht ein strenges Reglement (cuddle party rules), das sexuelle Absichten nicht zulässt: Küssen und erogene Zonen sind tabu, wem es doch zu heiß wird, der wendet sich einfach ab. Natürlich kommt der Trend aus Amerika, vor allem bei Singles sind derartig unverbindliche Rituale verbreitet. Was soll man davon halten? Ist das Therapie, ist das Livestyle, ist das Kompensation? Auf jeden Fall ein neues psychisches Defizit, mit dem man Geld verdienen kann. Wer das Wunder der Berührung erfahren möchte, findet sinnigerweise auf der Site für Rauftreffs „fight-for-fun“ Termine und Treffpunkte in Deutschland. (22.05.2014)

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Leidbilder

Kein Tippfehler: es gibt Leidbilder. Das sind gefaltete Zettel mit den Lebensdaten und einem Bild eines Verstorbenen. Diese Totenzettel verbreiteten sich im 19. Jahrhundert über das katholische Europa. Leidbilder sind für die Familienforschung interessant, da sie für einfache Menschen angefertigt werden, über die sonst nichts überliefert ist. Im Kreisarchiv von Kleve hat man etwa 1200 derartiger Leichenzettel gesammelt. Leidbildchen kann man  auch online erstellen. Wer im Leben kein Leitbild hatte, kann wenigstens post mortem ein Leidbild bekommen. (22.05.2014)

Nachtrag 14.09.2019. Ein Schaukasten mit Leidbildchen in der Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Melk. Foto: St.-P. Ballstaedt

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