Literatur für alle

Die Leichte Sprache (LS) wurde für Menschen mit kognitiven Behinderungen entwickelt, um ihnen eine barrierefreie Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. So sind inzwischen viele Websites offizieller Institutionen und auch wichtige Dokumente in leichter Sprache abrufbar.

Aber was ist mit Literatur? Soll man Jules Verne, Mark Twain, Shakespeare in Leichte Sprache übersetzen. Man hat es getan, um Menschen mit eingeschränkten Sprachfähigkeiten von der Literatur nicht auszuschließen. Die Geschichten bleiben so erhalten, aber die poetische Sprache geht natürlich verloren. Aber was ist, wenn Literatur gleich in Leichter Sprache geschrieben wird? 13 zeitgenössische Autorinnen und Autoren haben das in einem Projekt am „Literaturhaus Frankfurt am Main“ getan, darunter bekannte Namen wie Alissa Walser, Arno Geiger, Judith Hermann. Das Buch hat leider einen unschönen Titel und ein unschönes Cover:

 

 

 

Hauke Hückstädt (Hrsg.): LiEs das Buch! Literatur in einfacher Sprache. München: Piper, 2020.

 

 

 

 

Einige Geschichten habe ich gelesen und bin überrascht, dass mir die Lektüre nicht langweilig wurde, trotz einfacher Wörter und Sätze. Viele Hauptsätze, wenige nachgeordnete Nebensätze, wenige Sprachbilder, die erklärt werden, viele Wortwiederholungen, viele Verben statt Nominalisierungen. Aber auch mit eingeschränktem sprachlichem Werkzeug kann man gute Geschichten erzählen, z.B. über eine jüdische Familie in einem Versteck in Amsterdam mit dem anspruchsvollen Titel. »Die Zeit ist ein Einweck-Gummi. Sie ist ohne Anfang und Ende« von Alissa Walser. Oder die Erzählung über eine langjährige Ehe, »Ich verlasse dich« von Julia Schoch. Aus ihr habe ich zwei Seiten abfotografiert, damit man sich einen Eindruck von diesem Stil verschaffen kann (zum Vergrößern ins Bild klicken).

Der Herausgeber rechnet mit 16 bis 17 Millionen Menschen als Adressaten im engeren Sinn: Menschen mit Behinderungen, funktionale Analphabeten,  Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, Migranten, die Deutsch lernen. Aber die Texte sollen keinen Lesenden unterfordern, auch nicht einen entdeckungsfreudigen Akademiker. (22.07.2020)

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