Mikroaggressionen

Das aggressive Verhalten war zu meiner Studienzeit ein zentrales Thema der Sozialwissenschaften. Die Kontroverse verlief zwischen der Psychoanalyse und der Ethologie nach Konrad Lorenz auf der einen Seite, die einen Aggressionstrieb annahmen, und der Frustrations-Aggressions-Theorie auf der anderen Seite, die eher soziale Frustrationen für aggressives Verhalten verantwortlich machte (und es gab etliche vermittelnde Positionen).

Aber was ist aggressives Verhalten? Es gibt die eindeutigen Fälle physischer Gewalt gegen Personen und Sachen, es gibt psychische Gewalt, die schon schwerer zu definieren ist und es gibt verbale Gewalt in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen usw. Eine Form ist schwer fassbar: Aggressionen, die sich eher versteckt äußern: Man geht jemandem aus dem Weg, man übergeht jemanden, man stellt eine verletzende Frage usw. In der derzeitigen Diskriminierungsdebatte wurden dafür die Mikroaggressionen eingeführt, das sind subtile Demütigungen und Herabsetzungen sprachliche und nichtsprachlicher Art. Das Konzept bringt aber ein Problem mit sich: Was als Mikroaggression gewertet wird, das bestimmt das Wahrnehmen und Erleben des Adressaten. Das Feld möglicher Mikroaggressionen wird damit unüberschaubar. Das aktuelle Beispiel ist die Frage, z.B. an einen Schwarzen: „Wo kommen Sie denn her?“ Diese Frage transportiert angeblich die Botschaft „Du gehörst hier nicht her.“, sie diskriminiert. Tatsächlich ist das wohl eine der ältesten Fragen der Welt, um mit einem Menschen in Kontakt zu treten und sie ist nicht nur gesprächsanbahnend, sondern kann durch wirkliches Interesse motiviert sein. Aber die Definitionshoheit hat der Angesprochene.

Welche Handlung mit einer Äußerung vollzogen wird, das ist die Grundfrage der Sprechakttheorie und hier gibt es in der Alltagskommunikation viele vage und mehrdeutige Fälle. Wie ist z.B. der Satz zu verstehen: „Ein wenig mehr Pfeffer hätte die Roulade schon vertragen.“ Ist das nicht eine Kritik am Koch bzw. der Köchen, nicht richtig würzen zu können? Oder die sachliche Frage „Hast du den Rauchmelder angebracht?“ kann als Mikroaggression empfunden werden. In der Kommunikationstheorie entsteht Bedeutung in einem gemeinsamen Prozess, in dem nicht nur eingeht, was ein Empfänger versteht, sondern auch was der Absender meint. Zudem spielt die Sprechsituation eine Rolle, wird das nicht berücksichtigt, dann werden Mikroaggressionen zum politische Kampfbegriff, der wissenschaftlich unbrauchbar ist. Und es wird fast unmöglich, etwas zu sagen, was nicht als Mikroaggression verstanden werden kann. (07.09.2022)

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