Gerhard Roth hat schon viele Bücher geschrieben, die meisten habe ich mit Gewinn gelesen. Dieses Buch ist eine Art Zusammenschau aller Erkenntnisse über den Menschen aus neuropsychologischer Sicht, orientiert an einem Werk von René Descartes: Traité de l’homme (posthum 1662)
Gerhard Roth: Über den Menschen. Berlin: Suhrkamp, 2021.
Was mir den Autor immer wieder sympathisch macht, ist der Versuch die wissenschaftlichen Erkenntnisse möglichst verständlich darzulegen. Wer sich allerdings in der Neuroanatomie nicht gut auskennt, wird vielen Passagen nicht ganz folgen können, aber die Schlussfolgerungen sind eindeutig. Lobenswert finde ich den Blick über den Tellerrand auf Philosophie und Psychologie. Die Psychologie kommt schon lange nicht mehr ohne neurowissenschaftliche Fundierung und Ergänzung aus. Das Buch behandelt in 13 Kapiteln alle derzeit umstrittenen und existenziellen Probleme (bis auf ein Problem): Die Stellung des Menschen, Anlage und Umwelt, Entwicklung der Persönlichkeit, unbewusste Motive und bewusste Intentionen, Willensfreiheit, Veränderbarkeit bei sich und anderen, sprachliche und nonverbale Kommunikation, Verstehen, Ich und Identität, Intelligenz, Aggression und Kriminalität, Psychopathologie, Beziehung zwischen Geist und Gehirn, Grenzen der konstruktiven Erkenntnis. Dabei bleibt der Autor angenehm zurückhaltend und tritt nicht als Neurowissenschaftler-Guru auf, der die Deutungshoheit für alle Probleme beansprucht. Roth kann oft nur vorläufige Erkenntnisse anbieten, aber er gibt in etliche Fällen an, was sicher nicht zutrifft, er engt damit den Problemlösungsraum ein. Er zeigt deutlich die Grenzen unserer Wissens auf und benennt die Probleme, die bisher noch nicht lösbar sind, z.B. die Beziehung zwischen Gehirn und Geist.
Die Ergebnisse der Neurowissenschaften konvergieren auf ein naturalistisches Menschenbild, das etliche liebgewonnene Vorstellungen vom Menschen radikal in Frage stellt: „Die in diesem Buch präsentierten Erkenntnisse ziehen viele Aussagen und Konzepte der derzeitigen Geistes- und Sozialwissenschaften in Zweifel, während sie viele andere sinnvoll ergänzen.“ (S. 341) Gerhard Roth wendet die neuropsychologischen Erkenntnisse auf das Strafrecht, das Bildungssystem, die Psychotherapie an, was neue Perspektiven eröffnet. Ein Thema bleibt völlig ausgespart: die Religionen. Warum brauchen viele Menschen eine Religion? Was können die Neurowissenschaften zu diesem merkwürdigen Phänomen der menschliche Existenz beitragen? (24.07.2021)
Zur vertiefenden Lektüre eignet sich das das kürzlich erschienene Lehrbuch:
Gerhard Roth/Andreas Heinz/Henrik Walter (Hrsg.), Psychoneurowissenschaften. Heidelberg: Springer Spektrum, 2020.
Zwei Bücher, die sich hervorragend ergänzen. Quellen: https://www.suhrkamp.de; https://www.springer.com/de
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