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Arschig

Heute in der Buchhandlung vor den Regalen mit Neuerscheinungen fallen mir mehrere Titel mit deftigem Vokabular auf, vor allem im Bereich der Lebenshilfe:

Alexandra Reinwarth: Am Arsch vorbei geht auch ein Weg. 2016
Tommy Jaud: Sean Brummel: Einen Scheiß muss ich. 2016
Anna Kraft/Erik Jäger: Ein Arsch – ein Ziel: meine Challenge. 2017
Gitte Härter: 30 Minuten Arschlöcher zähmen. 2012
Horst Lichter: Keine Zeit für Arschlöcher:…hör auf dein Herz. 2016

Von Horst Lichter erwartet man keinen anderen Titel, aber auch viele Romanautoren und –autorinnen haben anales Vokabular als Mittel der Aufmerksamkeitserregung entdeckt:

Jutta Sein: Arsch auf Augenhöhe. 2016
Christian Bauer: Ein nackter Arsch: Robert Simareks erster Fall. 2016
Frank Pape: Gott, du kannst ein Arsch sein. Stefanies letzte 296 Tage. 2016
Kerstin Hohlfeld/Leif Lasse Andersson: Ich heirate einen Arsch. 2014

Mal sehen, welcher Körperteil in die Buchtitel aufrückt, wenn der Arsch abgegriffen, um nicht zu sagen abgewischt ist. (28.01.2017)

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Grundwerte

Werte

Über Grundwerte wird derzeit viel verlautet, hier hat jemand als Memo viele positive Wörter auf einem Aufkleber untergebracht, deutlich mit christlicher Schlagseite. Fundstelle: Tübingen, Mohlstraße. Foto: St.-P. Ballstaedt (25.01.2017)

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Historischer Humor 6

Auch das Lachen hat seine historischen Bedingungen, dazu habe ich schon einige Beispiele geliefert. Im zweiten Witzbuch von Hellmuth Karasek „Das find ich aber gar nicht komisch. Geschichte in Witzen und Geschichten über Witze“ finden man viele Beispiele, dass Witze „ihre Entstehungszeit und ihr Verfallsdatum“ haben (S. 17). Dazu ein Kalauer, den Karasek berichtet:

Was entsteht, wenn ein Gebiss in einen Teller Spaghetti fällt?
Antwort: Zahnpasta

Dieser Witz verrät etwas über seine Entstehungszeit: Es gibt noch Zahnersatz, der nicht so recht haftet, und das Verstehen des Witzes setzt eine Kenntnis der italienischen Küche voraus. Die mediterane Küche ist seit dem Anwerbeabkommen 1955 mit den italienischen Gastarbeitern nach Deutschland eingewandert, der Aufschwung der Implantate lässt sich auf Ende der 1980er Jahre festlegen: Also der Witz wird wohl zwischen 1960 bis 1980 entstanden sein. Es gibt eine Archäologie des Witzes! (22.01.2017)

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Schweizer Symbolbild

Am 12.02.2017 steht wieder eine Volksabstimmung in der Schweiz an. Eine Gesetzesänderung soll die Einbürgerung der dritten Ausländergeneration unter bestimmten Bedingungen erleichtern. Es geht um in der Schweiz geborene Personen unter 25 Jahren, ein Elternteil oder Grosselternteil muss in der Schweiz geboren sein bzw. Aufenthaltsrecht besessen haben. Klingt nicht nach einer dramatischen Wende, denn diese Menschen sind meist bereits brave Schweizer geworden. Aber überall hängen Plakate gegen „unkontrollierte Einbürgerung“, wohl wieder aus der Werkstatt des Werbefachmanns Alexander Segert. Er hat sein Motto wieder umgesetzt: „Keep it simple and stupid.“ (20.01.2017)

Symbolbild

Im Schwyzer Volksblatt wird die Kampagne erläutert: „Die Burkaträgerin steht als Symbolbild für muslimische Einwanderer, welche die Scharia über das Schweizer Recht stellen.“ Foto auf dem Bahnhof Winterthur: St.-P. Ballstaedt

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Paste-Ups

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In Tübingen tauchen zunehmend kleine handgemalte, ausgeschnittene und angekleisterte Aufkleber, sogenannte Paste-Ups auf. Fotos: St.-P. Ballstaedt (16.01.2017)

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Schneepinkeln

Eine vergängliche Kunst und eine maskuline Form des Hinterlassenes von Spuren. Jahrelang bin ich daran gescheitert, einen Violinschlüssel in den Schnee zu pinkeln. (15.01.2017)

Schneepinkeln

Ästhetisch nicht befriedigend, bessere Beispiele hier. Foto: Str.-P .Ballstaedt

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Glimpflich

„Die Unfälle verliefen weitgehen glimpflich.“ Das bedeutet, sie sind ohne besonderen Schaden verlaufen. Woher kommt dieses seltsame Adjektiv „glimpflich“? – „Sie verunglimpfen Andersdenkende.“ In dem Verb im Sinne von „diffamieren, schlechtmachen“ steckt wieder das Morphem „glimpf“, das es als freistehendes Substantiv nicht mehr gibt, nur noch als Eigenname „Glimpf“. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm sind viele Spalten dem Wort „Glimpf“ mit seinen Ableitungen und Bedeutungen gewidmet. 1727 reimt der Gelegenheitsdichter Christian Friedrich Henrich:

den Männern sey es grosser schimpff
wenn sie mit so viel zarten glimpff
das liebe frauenzimmer ehren

Glimpf bedeutet hier ein gutes Benehmen, mit dem man sich bei den Frauen einschmeichelt. Unglimpf bedeutet schlechtes Benehmen, wenn man jemanden kränkt, beleidigt oder ihm Schaden zufügt.

Das Wort hat eine verzwickte und nicht geklärte Etymologie. Es stammt wohl ursprünglich von einem starken althochdeutschen Verb: limphan oder gilimphan in der Bedeutung „zukommen, zutreffen, geziemen“. Daraus wird ein Substantiv: gilimph = Angemessenheit und im Mittelhochdeutschen g(e)limpf = angemessenes Benehmen. Es gibt Spekulationen, dass das Wort etwas mit den Verben limpen oder lumpen = hinken, lahmen, sich fortschleppen (englisch to limp) zu tun habe, aber die dafür notwendigen Bedeutungsverschiebungen bleiben im Dunkel der Sprachgeschichte. (11.01.2017)

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Übermalt

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Sonderbares Holzschildchen auf einer Hauswand in der Neuen Straße in Tübingen. Offenbar das Feminismus-Symbol, das übermalt wurde. Foto: St.-P. Ballstaedt (08.01.2017)

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Sexszenen

Von einem Klassiker des französischen Films habe ich die Aussage in Erinnerung, dass man einmal im Film den Geschlechtsakt zeigen wird und das würde sehr langweilig sein. Heute kann man in jedem Film ab 12 Jahren explizite Sexszenen sehen. Eine gute Sexszene zeigt nicht nur den Verkehr, sondern macht auch eine Aussage über die Persönlichkeiten und die Beziehung des Paares.

Sehr gut gelungen ist dies im Film „Paula. Mein Leben soll ein Fest sein“ über die Malerin Paula Modersohn-Becker. Es gibt drei Sexszenen. Die erste Szene zeigt einen sexuellen Kontakt mit ihrem Ehemann, kurz nach der Heirat. Sie liegen nackt einander zugewandt, aber in räumlichem Abstand und sie befriedigt ihn manuell. – Die zweite Szene zeigt die Entjungferung von Paula, wobei sich nicht defloriert wird, sondern sich auf ihren französischen Lover George sitzend in ruhigen und vorsichtigen Bewegungen selbst defloriert. Nur zwei Blutflecken auf dem Laken bezeugen das Ergebnis. – Die dritte Sexszene: Mit ihrem Ehemann schläft sie nach dem Wiedersehen in Paris unter einer grauen Bettdecke, ein Paar das die Umwelt damit abschirmt, man sieht nur ihre Leiber in Bewegung, der Mann offenbar über ihr. Alle drei Szenen sind bezeichnend für die jeweilige Situation von Paula, sie visualisieren perfekt ihre Entwicklung.

Übrigens gehören Sexszenen zu den anstrengendsten und oft langwierigsten, bis sie endlich im Kasten sind und die Aufnahmecrew mit einem anerkennenden „Great fucking!“ reagiert. (07.01.2017)

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Francis Bacon

Was zieht mich an seinen Bildern an? Keine Ausstellung habe ich von ihm verpasst: Staatsgalerie Stuttgart1985/86; Haus der Kunst München 1996/97, und jetzt wieder in der Staatsgalerie Stuttgart 2016/17.

Die Menschen sind auf Podesten, Gerüsten, Laufstegen exponiert und in leeren Räumen isoliert, meist nackt und maskulin, die Körper fleischig, verkrampft, amorph, kriechend oder ineinander verschlungen und verknetet. Oft sind die Leiber als Torso fragmentiert oder verwundet wie auf einem Schlachtfeld. Die Gesichter aufgedunsen mit furunkeligen Auswüchsen, die Münder oft schreiend aufgerissen mit Zahnreihen wie bei einem Totenschädel.

Die Gesichter visualisieren die Auflösung der Identität, die Verdreifachung einer Person in einem Triptychon mit getrennt gerahmten Bildern veranschaulicht eine multiple Persönlichkeit. Der Mensch als biologische Kreatur, die isoliert zu keiner Ganzheit findet und in der Gemeinschaft nur zu zerfleischten Vereinigungen und Verknotungen fähig ist, in der er wiederum als einzelne Person verschlungen wird, Begrenzungen der einzelnen Körper sind nicht erkennbar, sie fließen unscharf ineinander.

Ich interpretiere die Gemälde als extremen Ausdruck eines existenzialistischen Lebensgefühls. Die Bilder führen zu einem radikal ambivalenten ästhetischen Erlebnis: Der oder die Betrachtende fühlt sich durch Hässlichkeit abgestoßen und gleichzeitig existenziell betroffen und als Voyeur angezogen. Man wird zum Zeugen der Auflösung von Körper und Seele. (05.01.2017)

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 Eine Betrachterin in der Tate Galerie vor Francis Bacon: Triptychon 1972. Foto: Stu Smith, Flickr.com

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