Artifizielle Texte

Mit der Freigabe des ChatGPT hat die Forschung zur Künstliche Intelligenz (KI) einen Paukenschlag gelandet: Computer schreiben nach Vorgaben artifizielle Texte, die von menschlichen Texten kaum zu unterscheiden sind. Die Feuilletons aller Zeitungen berichten über das neue Angebot und unzählige Nutzer testen die Software mit immer gewagteren Aufgaben. Mich hat ein Schulkamerad bereits Weihnachten mit einer Weihnachtsgeschichte im Stil von Heinrich Böll gefoppt, die ChatGPT generiert hat.

Die Leistung von ChatGPT beruht auf einer Kombination von maschinellem Lernen und natürlicher Sprachverarbeitung. GPT steht für Generative Pretrained Transformer: Als Material dient eine Unmenge an Texten, die im Web ja nicht schwer zu finden sind: Bücher, Gedichte, Blogeinträge, wissenschaftliche Publikationen, Websites usw. Aus dem Textmaterial analysiert und lernt der Roboter nicht Inhalte, sondern sprachstatistische Zusammenhänge, die er dann für die Generierung neuer Texte nutzt. Da ich selbst jahrelang an Problemen der Textstruktur und Textkohärenz gearbeitet habe, überrascht mich die Leistung nicht so sehr. Wie Wörter zu Sätzen und Sätze zu Texten verknüpft werden, das ist gut erforscht und kann deshalb auch in Algorithmen umgeschrieben werden. Es gibt Textschemata, Textsorten, Textgenres, deren Aufbau und Stilmittel von Textanalyseprogrammen erfasst werden können. Dazu einige kritische Gedanken:;

1. Es entsteht das Problem, welche Stichprobe an Texten aus dem Web ausgewertet werden. Gibt es da Kriterien, die für bestimmte inhaltliche Ausrichtungen der Texte sorgen? Werden bestimmte politische Haltungen oder moralische Wertungen bevorzugt. Die TAZ (9.2.2023) berichtet von einem Experiment, bei dem ChatGPT gefragt wird, wie man Pornodarstellerin wird. Der Chatbot rät dringend ab: „Die Pornoindustrie kann gefährlich und ausbeuterisch sein und es gibt oft negative Auswirkungen auf die körperliche und emotionale Gesundheit“. Auch mit ähnlichen Fragen bekommt man keine Karrieretipps, sondern Ermahnungen. OpenAI hat etwas gegen Pornografie. Damit werden aber bestimmte Werte reproduziert.

2. Ob die Aussagen in den neuen Texten faktisch zutreffen, überprüft der Chatbot nicht. Gern erfindet er Fakten, er halluziniert, wie KI-Forscher das nennen. Auf die Frage nach der Autobiografie des Chef der Daimler AG, Dieter Zetsche, nennt der Chatbot: „Ich. Dieter Z. – Ein Leben für das Automobil“. Die Autobiografie gibt es nicht (SPIEGEL 4.2.2023, S. 69). Es werden derzeit Schutzmechanismen eingebaut, mit denen falsche oder diskriminierende Antworten vermieden werden sollen, aber ein Missbrauch bleibt nicht ausgeschlossen.

3. Was ist mit den Urheberrechten der Autoren und Autorinnen, aus deren Textfundus geschöpft wird, ohne dass sie davon einen Ahnung haben. Gut, sie dienen nur als anonyme Datenspender für die Statistik. Aber wer hat die Rechte an den artifiziellen Werken? Muss der Roboter als Urheber eines Textes genannt werden? „Powered by humans“ könnte bald unter einem Text in der Zeitung stehen. Die EU-Kommission will 2024 einen Arteficial Intellingence Act vorlegen, in dem eine Kennzeichnungspflicht verlangt wird.

4. ChatGPT wird wohl bald die üblichen Suchmaschinen ersetzen, denn man kann direkt präzise Fragen und Anforderungen ohne die üblichen Suchwörter stellen. Das ist eine Herausforderung und Bedrohung für unser Bildungssystem. Gerade haben Schulen und Universitäten das Auffinden von Plagiaten gelernt, da kommt eine neue attraktive Möglichkeit, sich mit fremden Federn zu schmücken. ChatGPT hat in den USA bereits schriftliche Examensprüfungen für Mediziner bestanden! Schriftliche Leistungsbeweise wie Hausarbeiten oder Essays werden an Bedeutung verlieren.

5. Wie sieht die Zukunft der Kulturtechnik des Schreibens aus? Schreiben ist nicht nur eine Übersetzung von Wissen in Texten, sondern auch eine Form des Denken. Beim Schreiben sortieren wir Ideen, bewerten Argumente, entwickeln einen roten Faden. Der Schreibroboter denkt nicht, er versteht nicht, er kombiniert nach sprachstatistischen Algorithmen, die er nach langem Training aus vorhandenem Sprachmaterial gewonnen hat. Aber Algorithmen könnten durchaus zu unerwarteten, sozusagen emergenten Produkten führen. Auch die Grammatik ist ja in dem Sinne kreativ, dass aus einem festen Satz an Regeln unendlich viele neue Sätze gebildet werden können. Ist ChatGPT eine Bedrohung der menschlichen Kreativität?

All diese Fragen könnte man ChatGPT einmal stellen. Auf die Antworten kann man gespannt sein. (13.02.2023)

One Response to Artifizielle Texte

  1. Joachim Wedekind 13. Februar 2023 at 18:48 #

    danke für die Einordnung! Die Kopplung des Wissens über Textschemata etc. mit Maschinellem Lernen erzeugt zumindest auf den ersten Blick originelle Ergebnisse. Stellst du ChatGPT deine Fragen? Bin gespannt auf deinen Bericht.
    Gruß, Joachim

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