Lektüre über das imperfekte Gehirn

Gary Marcus: Murks. Der planlose Bau des menschlichen Gehirns. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009.

Das Buch stand schon seit Jahren in meinem Regal, jetzt habe ich es gelesen. Der Autor ist amerikanischer Psychologieprofessor an der New York University und dort Leiter des NYU Infant Language Learning Center.

Das Buch befasst sich mit Mängeln des menschlichen Gehirns. Marcus beschreibt in mehreren Kapiteln anhand von Experimenten eine deprimierende Abfolge von Fehlleistungen unseres Denkorgans: unser Gedächtnis ist schwach und fehleranfällig, unser Meinungsbildung ist einseitig und vorurteilsbehaftet, unsere Entscheidungen sind oft nicht rational und unlogisch, unsere Sprache steckt voller Mehrdeutigkeiten, wir ziehen einen kurzfristigen Lustgewinn einer langfristigen Planung vor und schließlich ist unser Gehirn schnell überlastet und anfällig für pathologische Störungen. Da das menschliche Hirn oft als Glanzleistung der Evolution und „der Mensch als vernunftbegabtes Tier“ gefeiert wird, liest sich die These erfrischend, dass das Gehirn eigentlich ziemlicher Murks ist. Als Murks bezeichnet der Autor „Problemlösungen, die umständlich und unelegant – dabei aber erstaunlich effektiv sind“ (S. 12).

Murks hat die Evolution schon beim Körper gebaut. Drei Beispiele: 1. Unsere Wirbelsäule hat sich aus dem Rückgrat vierfüßiger Tiere entwickelt und ist eine schlechte Lösung für ein aufrechtgehendes Lebewesen. 2. Die Retina, also die lichtempfindliche Schicht unseres Auges, liegt hinter den ableitenden Zellen und Nervensträngen, das Licht muss erst durch diese Schichten hindurch. 3. Der männliche Samenleiter macht einen langen, unökonomischen Umweg vom Hoden bis zum Penis. Alle drei Beispiele sind keine optimalen Lösungen, aber sie funktionieren.

Wie kommt es zu diesen suboptimalen Anpassungen in der Evolution. Eine Mutation, die auf einen Schlag eine bessere Lösung für ein Überlebensproblem liefert, wäre ein seltener Glückstreffer, meist sind viele kleine Schritte notwendig, die zu keiner optimalen, aber einer hinreichenden Lösung führen. Dabei setzt die Evolution an dem an, was bereits vorhanden ist, sie pfropft neue Funktionen auf alte auf. Das zeigt schon der Aufbau des Gehirns, bei dem die neueren Hirnregionen den älteren übergestülpt sind. Die neuen Funktionen arbeiten immer in Abhängigkeit von äteren Systemen. So hat es unsere rationale oder moralische Planung im Vorderhirn oft schwer sich gegen die emotionalen Reflexe archaischer Systeme durchzusetzen: Wir wollen eine Diät einhalten, aber das Schoko-Törtchen vor unseren Augen macht die Entscheidung zunichte.

Nicht immer überzeugt mich die Argumentation, z.B. im Kapitel über die Unzulänglichkeiten der Sprache. Sicher, die Sprache ist nicht logisch aufgebaut wie eine Computersprache, sie ist in vielen Fällen lexikalisch und syntaktisch mehrdeutig und deshalb missverständlich, die grammatischen Regeln haben zahlreiche nicht transparente Ausnahmen usw. Das kann man als defizitär beschreiben, aber ohne diese Unvollkommenheiten gäbe es keine Ironie, keinen Witz, keine Literatur, keine Lyrik, keine rhetorischen Mittel, keine Höflichkeit, das bedeutet: Die Möglichkeit kommunikativer Nuancen und Sprachspiele wäre massiv beschränkt. Eine imperfekte Sprache ist vielleicht doch eine nützliche Anpassung an unser komplexes soziales Leben.

Der Autor wendet seine Mängelliste argumentativ gegen den Kreationismus und das Intelligent Design: Ein intelligenter Schöpfer hätte nie einen solchen Pfusch abgeliefert. Aber die Evolution arbeitet nicht optimal, sondern funktional. Eine Anpassung muss einen Vorteil bringen, aber eine optimale Lösung muss sie nicht sein. Dem Autor wurde eine veraltete Theorie der Evolution und eine Fehlinterpreation der Evolutionären Psychologie vorgeworfen (Liddle & Shackelford, 2009), aber seine Zusammenstellung der geistigen Mängel und Unvollkommenheiten wird nicht in Frage gestellt.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der naheliegende Frage, wie wir mit so einer miserablen geistigen Ausstattung umgehen können. Es werden 13 Tipps gegeben. Sie sind trivial und klingen wie aus Ratgeber- und Lebenshilfetraktaten: Gewinnen Sie Abstand! Setzen Sie Prioritäten! Bemühen sie sich um Rationalität! Berücksichtigen Sie ihre eigene Impulsivität! Diese Ratschläge zur Weisheit sind nicht immer aus den vorherigen Kapiteln abgeleitet, im Gegenteil beweisen diese, dass unser vermurkstes Gehirn für solche Weisheiten nicht gerade aufgeschlossen ist. (09.05.2019)

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