Fresszettel

Wer dem Ursprung des Wortes „Fresszettel“ nachgeht, der landet wieder bei den Andachtsbildchen: Ab dem 18. Jahrhundert gab es briefmarkenformatige Schluckbildchen als Bestandteil einer religiösen Hausapotheke. Sie wurden in ganzen Bögen auf leichtem Papier gedruckt, um in Wasser aufgeweicht oder in Speisen beigegeben nicht im Hals stecken zu bleiben. Die Zettel gab es in Wallfahrtsorten, in Klöstern oder bei fahrenden Quacksalbern. Sie sollten nach Verzehr vor Krankheiten schützen oder sie heilen: „Fieber bleib aus/ N.N. ist nicht zu Haus“ stand z.B. auf einem Fresszettel, auf dem der Name des Kranken eingeschrieben war. Auch das Vieh musste derartige Papier-Medikamente schlucken. Die Kirchen billigten den volkstümlichen Brauch, sofern er nicht mit Aberglauben verbunden war. (17.04.2023)


Ein Bogen Schluckbildchen mit christlichen Motiven zum Ausschneiden für verschiedene Anlässe, vermutlich 19. Jahrhundert oder früher. Quelle: Wikimedia Commons.

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Andachtsbildchen

Am 22.05.2014 habe ich diesen Blog mit dem Thema Leidbilder gestartet, mir hat das Wortspiel Leitbild versus Leidbild gefallen. Kleine Bildformate haben mich schon immer fasziniert, z.B. Sammelbildchen oder Briefmarken als wohl kleinste visuelle Kommunikation. Ein weiteres Beispiel sind die Andachtsbildchen für Gläubige.

Größere Andachtsbilder kannten schon die mittelalterlichen Gläubigen, vermutlich gingen Anregungen dazu von den Ikonen aus (so Hans Belting). Im 14. Jahrhundert wurden vor allem in Frauenklöstern kleine Bildchen auf Pergament, Papier oder Stoff gemalt als dekorative Einlage für das Gebet- oder Gesangbuch. Die Bildchen wurden zu einer guten Einnahmequelle der Klöster und es wurde reger Handel damit getrieben. Für gehobene Stände wurden im 17. Jahrhundert aufwendige Bildchen mit Papierschnitt und Spitzen hergestellt. Mit Erfindung des Holzschnitts und des Kupferstichs verbreiteten sich Heiligenbildchen in hohen Auflagen und auch die künstlerische Qualität wurde besser.

Das gedruckte Andachtsbildchen kam im 19. Jahrhundert auf. Meist ohne künstlerischen Anspruch wurden Motive aus der christlichen Ikonografie verwendet: Stationen aus dem Leben und Leiden Jesu Christi, Mariens und der Heiligen, Schutzengel, das Lamm Gottes, religiöse Symbole wie z.B. das Herz Jesu oder das Kreuz.Die Bildchen dienten für die kleine Andacht zwischendurch zur frommen Erbauung außerhalb der Kirche. Es gab Verlage für religiöse Druckkunst, die zu jedem Fest des Kirchenjahres oder als Andenken an eine Wallfahrt Bildchen herausgaben.

Eine Sammlung von Andachtsbildchen befindet sich im Ethnografischen Museum in Breslau (Sammlung Nikolaus von Lutterotti). Im April 2023 wird in der Diözesanbibliothek Rottenburg eine Ausstellung eröffnet, die den Andachtsbildchen gewidmet ist. Im Web gibt es einen üppiges Angebot an Andachtsbildchen, z.B. bei holyart.de. (16.04.2023)

Prägebild mit eingeklebter Chromolithographie aus dem Jahr 1896. Andachtsbild aus dem Jahr 1918: Frauen am offenen Grab Jesu. Quelle: Wikimedia Commons. Andachtskreuz aus dem Gesangbuch. Scan: St.-P. Ballstaedt

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KI-Literatur

Keine Tageszeitung, in der derzeit nicht ein Artikel über Anwendungen, Möglichkeiten, und Grenzen von Chatbots zu lesen ist. Gestern einText, in dem sich Schriftstellerinnen und Lektorinnen dazu äußern, wie sich die Literaturproduktion durch KI verändern wird (FR 5.4.2023). Zwei Anwendungen werden diskutiert:

1. Die Analyse und Bewertung vorhandener Manuskripte mit Textanalyse-Software. Meine wissenschaftlichen Texte habe ich schon mit TextLab prüfen lassen. Es untersucht vor allem Parameter der Verständlichkeit wie z.B. Wortlänge, Satzkomplexität, Schachtelsätze usw. Das Programm macht mich auf lange und unübersichtliche Sätze aufmerksam. Zur Überarbeitung im Korrektorat und Lektorat kann das Programm durchaus nützlich sein. Allerdings ist Verständlichkeit kein sinnvolles Kriterium für Literatur. Ein weitergehendes Programm LiSA bewertet Belletristik nach verschiedenen Parametern: sprachliche Muster, Bekanntheit des Themas, Grundkonflikte, Stimmung und Emotionalität eines Textes, Errechnung des Leserpotentials usw. Zur Bewertung dient dann ein Vergleich mit Durchschnittswerten im jeweiligen Genre.

2. Spannender ist die Frage, ob Chatbots literarische Texte schreiben können. Bei einfachen Texten nach bestimmten Schemata, wie z.B. Groschenromanen, stellt nur die Textlänge ein Problem dar, literarische Kunst darf man nicht erwarten. Entscheidend ist hier die Frage: Kann die natürliche Kreativität einer Person durch KI simuliert werden? Und da überrascht es mich, dass Autorinnen sich durchaus die Hilfe von Chatbots vorstellen können, z.B. bei einer Schreibblockade oder zur Ideenfindung mithilfe von Prompting. Oder als kollaboratives Schreiben, bei der Mensch und Maschine abwechselnd zusammenwirken (augmented Creativity).

Mein stärkste Argument gegen hochwerte KI-Literatur: Computer können kombinieren, aber sie können nicht fühlen, es fehlen persönliche Erlebnisse, es fehlt die Empathie. Und es fehlt die Raffinesse, mit der ein Autor/eine Autorin bei seinen/ihren Lesenden das Verstehen rhetorisch anleiten und auch gängeln kann.

Fragen wir ChatGPT selbst, ob Romane in seine Kompetenz fallen: „Als KI-Modell kann ich sicherlich einen Roman schreiben, aber es ist wichtig zu beachten, dass KI-Textgenerierung noch nicht perfekt ist und nicht unbedingt den gleichen kreativen Sinn und das Verständnis für menschliche Emotionen und Erfahrungen aufweist wie ein menschlicher Autor. Es ist auch wichtig zu berücksichtigen, dass ein Roman in der Regel eine komplexe Struktur aufweist, die eine sorgfältige Planung und Entwicklungsarbeit erfordert, um eine zusammenhängende Handlung und gut entwickelte Charaktere zu schaffen. Als KI-Modell könnte ich sicherlich ein grundlegendes Gerüst für eine Geschichte liefern, aber ich würde immer noch auf die Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Autor angewiesen sein, um sicherzustellen, dass die Geschichte lebendig und fesselnd ist und den Leser wirklich mitreißt.“

Das ist doch eine treffende Selbsteinschätzung! (06.04.2023)

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Schutzbrille

Wieder einmal ein Aufkleber in Tübingen, dessen Bedeutung sich mir nicht erschließt und die ich auch nicht durch eine Bildrecherche klären konnten. Die Oma erinnert mich an das Gebotszeichen, eine Schutzbrille zu tragen. Foto: St.-P. Ballstaedt (03.04.2023)

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KI-Pinocchio

ChatGPT, jetzt GPT-4 erregt die Gemüter der Feuilletonisten. Es ist auffällig, dass man vor allem nach Schwachstellen sucht: Wo macht das System einen Fehler? Es gibt Überschriften „Wie die KI das Lügen lernt“ oder „Der Pinocchio, der aus KI gemacht ist“. Ein Programm kann nicht lügen, dieser Sprechakt der absichtsvollen Falschaussage ist den Menschen vorbehalten. Das Programm stellt nur Zeichenketten nach statistischen Wahrscheinlichkeiten zusammen, die Wahrheit spielt dabei keinerlei Rolle. Deshalb kann es auch zu fiktiven „Fakten“ kommen, die KI-Experten sprechen von Halluzinationen. Diese treten vor allem in Closed Domains auf, also bei Themen, zu denen wenig Texte zum Training vorhanden waren. Man arbeitet daran, ein Factchecking über Suchmaschinen zu integrieren, um Halluzinationen zu verringern.

Bei den kritischen Texten über ChatGPT kann man zwischen den Zeilen auch eine gewisse Genugtuung herauslesen, dass die Algorithmen eben doch nicht so intelligent sind wie die natürliche Intelligenz des Menschen. Obwohl ja Lügen, Fake News, Desinformation, Manipulation usw. humane Kernkompetenzen darstellen. (30.03.2023)

Diese Bild hat Stable Diffusion auf die Prompts „Pinocchio Long Nose Computer“ generiert.

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Gelocktes Schamhaar

In Florida wurde einer Lehrerin gekündigt, weil sie ohne schriftliche Erlaubnis der Eltern den Schülern und Schülerinnen (!) im Unterricht eine Abbildung der David-Statue von Michelangelo gezeigt hat. Ist die Skulptur Kunst oder Pornografie, darüber wird jetzt debattiert! Ein selbstbewusster nackter Mann der Renaissance, der gerade das Wurfgeschoss in Stellung bringt, um einen Stein auf Goliath zu schleudern. Aber man sieht sein drolliges Gemächt mit schön gelocktem Schamhaar. Das ist Jugendlichen offenbar nicht zuzumuten, die in der Pause auf ihren Smartphones Hardcore-Pornos anschauen. (29.03.2023)

Eine klassische Schönheit, was den Betrachtenden dabei durch den Kopf geht, scheint doch sehr unterschiedlich zu sein. Quelle: Wikimedia Commons

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Tauben im Gras

Dieser Romantitel von Wolfgang Koeppen ist derzeit in allen Feuilletons und Kultursendungen zu lesen und zu hören, er soll zur Abitur-Pflichtlektüre der beruflichen Gymnasien werden. Eine schwarze Englischlehrerin hat ihn gelesen und darin Wörter gefunden, die rassistisch sind. Das ist auch kein Wunder: Der Roman spielt in der Nachkriegszeit (1949-1951) in einer deutschen Großstadt (vermutlich München), in der auch schwarze Soldaten der US Army stationiert sind. Sie werden von einem Teil der Bevölkerung sprachlich und moralisch diskriminiert. Der Roman ist eindeutig antirassistisch, er zeigt, wie sich Rassismus in einer Gesellschaft einnistet und welche Auswirkungen er hat. Also eigentlich doch eine in unsere Zeit durchaus passende Lektüre. Aber zahlreiche Organisationen und Personen haben sich gegen dieses Buch als Pflichtlektüre ausgesprochen.

Pädagogen, Politiker und Literaturwissenschaftler haben sich zum Thema geäußert. Was dabei auffällt: Wir wissen ja aufgrund von Untersuchungen, dass es um die Kompetenzen, Texte zu verstehen und zu interpretieren, bei unseren Schülern und Schülerinnen nicht so weit her ist. Kann man Abiturienten also nicht zumuten, einen historischen Roman einzuordnen und als antirassistisch zu verstehen? Zudem unter Anleitung von Pädagogen. Aber da lese ich, zum Umgang mit diesem Thema gäbe es keine Unterrichtskonzepte, da wären erst Fortbildungen und begleitende Materialien notwendig. Als ob der Roman der erste wäre, der Rassismus thematisiert! Allerdings ist der Roman keine einfache Lektüre, da er keine chronologische Geschichte erzählt, sondern viele Personen und Handlungsstränge miteinander verknüpft. Sind auch die Lehrkräfte mit einem anspruchsvollen Text überfordert? (27.03.2023)

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Weniger ist mehr

Wer ein richtiges und gutes Leben in Zeiten des Klimawandels und des Umweltschutzes führen möchte, der sieht sich mit erheblichen Anforderungen an sein Verhalten konfrontiert: Sein Leben soll achtsam, resonant, entschleunigt, emphatisch, sensibel, nachhaltig und suffizient sein. Das Wort Insuffizienz war mir bekannt, Suffizienz war mir neu (lateinisch sufficere = ausreichen, genügen). Es bezeichnet einen möglichst geringen Ressourcenverbrauch an Rohstoffen und Energie. Das klingt nach Beschränkung und Verzicht und steht im Widerspruch zur Wachstums-, Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft, die ein ganz anderes Verhalten voraussetzt.

Neu sind die ethischen Anforderungen nicht. Unter Minimalismus wird allgemein eine Weltanschauung verstanden, die sich im Leben auf das Notwendige und Unverzichtbare beschränkt: Ein einfaches Leben, wenig Besitz, wenig Konsum, Selbstversorgung usw. Derartige Lebensstile haben schon viele antike Philosophen und Religionsstifter vertreten, allerdings nicht unter dem geopolitischen Handlungsdruck von heute. (09.03.2023)

Das Tiny House ist ein aktuelles Beispiel für minimalistisches und nachhaltiges Wohnen. Der Trend geht allerdings in die andere Richtung: Die beanspruchte Wohnfläche pro Kopf nimmt zu. Foto: Wikimedia Commons

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„Du siehst toll aus!“

Heute am 1.3.2023 ist der Welttag des Kompliments. Ein Anlass über diesen Sprechakt zu schreiben, der aus der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht wegzudenken ist, aber oft als unwahrhaftig und diskriminierend empfunden wird.

Etymologisch stammt das Wort vom lateinischen Verb „complere = erfüllen“ ab. Ob es im 16. Jahrhundert aus dem Spanischen (complimiento) oder im 17. Jahrhundert aus dem Französischen (compliment) entlehnt wurde, ist nicht ganz geklärt. Ein Kompliment ist eine positive, wohlwollende, höfliche Äußerung gegenüber einer Person, die eine Eigenschaft oder Leistung hervorhebt. Da Lob bzw. Anerkennung der wirksamste soziale Verstärker ist, also zunächst etwas Gutes.

Problematisch wird das Kompliment als Bestandteil des Einschmeichelns, Speichelleckens oder der Arschkriecherei. Besonders bei der männlichen Balz einer Frau gegenüber spielen Komplimente eine wichtige, aber auch schwierige Rolle. Wenn sie sich auf das Äußere beziehen sind sie bei Feministinnen nicht mehr angesagt. Nach eine älteren Umfrage im Fachblatt Men’s Health hören Frauen gern „Du riechst unheimlich gut“ oder „Ich liebe dein tolles Lächeln“. Freiherr von Knigge, der mit seinem Bestseller „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) kein „Complimentir-Buch“ verfassen wollte, schreibt: „Weit entfernt bin ich also, das System solcher Leute empfehlen zu wollen, die jeden ohne Unterlaß mit leeren Komplimenten, Schmeicheleien oder Lobsprüchen in die Verlegenheit setzen.“

Wenn man keine oder zu wenig Komplimente bekommt, ist Fishing for compliments eine beliebte Taktik: Man setzt seine eigene Leistung herab oder bekennt eine Schwäche in der Hoffnung, damit positive Rückmeldungen auszulösen: „Heute ist mir die Suppe nicht so gut gelungen.“ Oder im akademischen Kontext: „Leider fehlte mir die Zeit, den Vortrag solide vorzubereiten.“ (01.03.2023)

Ein Standardwerk der Soziologie: Alphons Silbermann: Von der Kunst der Arschkriecherei. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998. Coverfoto: St.-P. Ballstaedt

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Gender Gap

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angewiesen, dass die „Damen- und Herrenausführungen“ des Bundesverdienstkreuzes in der Größe angeglichen werden. Bisher waren die Ordenszeichen für Frauen kleiner und nicht am Bande, sondern an einer Schleife. Symbolisch wird somit der Verdienst der Frauen ebenso gewichtet wie der der Männer. Das sollte ein Anlass sein, auch den materiellen Verdienst der Frauen zu vergrößern. Noch immer herrscht ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle von 18 Prozent zwischen Männern und Frauen. (26.02.2023)

Das Bundesverdienstkreuz ist die höchste Auszeichnung des Staates für Verdienste um das Gemeinwohl. Foto: St.-P. Ballstaedt

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