Flüchtlinge

Das Wort des Jahres ist keine Überraschung: Die Jury der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) entschied sich für Flüchtlinge. Die Begründung ist aber interessant: „Das Substantiv steht nicht nur für das beherrschende Thema des Jahres, sondern ist auch sprachlich interessant. Gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling (›Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist‹), klingt Flüchtling für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente.“ Eigentlich wären Geflüchtete oder Flüchtende neutralere Wörter. Das Wort Flüchtling wird übrigens von Goethe in den „Leiden des jungen Werther“ in abschätziger Weise verwendet: „Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto empfindlicher zu machen.“ (13.12.2015)

Nachtrag: Der Begründung der Jury haben einige Sprachwissenschaftler widersprochen. So Peter Eisenberg in der FAZ. Das Wort „Flüchtling“ sei unproblematisch, da nicht mehr transparent. Ein Wort ist transparent, wenn sich seine Bedeutung aus den Bestandteilen ergibt, z.B. Kinderarzt. Dagegen ist Junggeselle nicht transparent, da sich seine Bedeutung nicht aus den Bestandteilen ergibt. Mit Flüchtling ist keine abwertende Bedeutung durch das Morphem -ling mehr verknüpft, wie auch nicht mit Liebling oder Frühling. – Im SPIEGEL äußert sich Jochen Hörisch. Auch für ihn ist das Wort „Flüchtlinge“ unverfänglich, obwohl damit nicht zwischen Flüchtlingen und Migranten unterschieden wird, denn auch Migranten fliehen vor einer unerträglichen Situation. Andere Wörter wie „Schutzsuchende“, „Asylanten“, „Heimatvertriebene“ lösen absichtlich bestimmte Assoziationen aus. Das vorgeschlagene neutrale Wort „Geflüchtete“ hält er für eine künstliche Anstrengung der political correctness. – Man kann hier viel über Wortgebrauch, Wortbedeutungen und deren Wandel lernen. (20.12.2015)

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Der Grüsel

Wieder habe ich einen Helvetismus aus der Schweiz mitgebracht. In dem Umsonst-Boulevard-Blättchen „Blick am Abend“ (Claim: News, die wirklich unterhalten) lese ich über einen Spanner, der Fotos von Mädchen und Frauen in engen Hosen, kurzen Röcken und tiefen Ausschnitten geknippst und ins Web gestellt hat (Flickr-Gruppe: Accidentally Erotic). Der Spanner wird als „ein Grüsel“ bezeichnet. Das Wort habe ich wieder einmal im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm gefunden. Ein Grüsel ist ein widerlicher, ursprünglich ein gruseliger Mensch: Ein Grüsel erregt Grusel. Ein Beleg als Gräusel findet sich schon 1470, 1850 verwendet Jeremias Gotthelf das Wort in seinem Roman „Uli der Pächter“. Vielleicht hat es sich deshalb in der Schweiz erhalten. (12.12.2015)

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Dunkle Botschaften

Eine Reihe düsterer Fotokopien im DIN-A-4-Format klebte letzte Woche an Kästen und Mauern in der Altstadt. Menschen halten selbst geschriebene Plakate mit sonderbaren Mitteilungen vor sich hin. (10.12.2015)

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Wer kann über diese Aktion etwas berichten? Zum Vergrößern Bilder anklicken. Fotos: St.-P. Ballstaedt

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😂 Tränen der Freude

Die Redaktion des Oxford English Dictionary hat diese Jahr kein Wort zum „Word oft he year“ gewählt, sondern ein Emoji: Face with Tears of Joy. Begründung des Chefs Caspar Grathwohl: „Emojis verkörpern einen zentralen Aspekt des digitalen Lebens, das sehr visuell, emotional und unmittelbar ist.“ Alle drei Attribute sind reichlich schwammig. Digitale Kommunikation ist oft visuell: Austausch von Fotos, Selfies usw. Aber warum emotional und erst recht warum unmittelbar? Bleiben die Argumente, dass Emojis sprachliche Grenzen überwinden und das gekürte Emoji in Großbritannien 2015 am beliebtesten war (letzteres spricht für den mentalen Zustand der Engländer). Der Verlag will wohl darauf aufmerksam machen, wie modern, cool und digital er ist. Aber dass ein Wörterbuch wieder auf schlichte ikonische Zeichen regrediert, ist doch befremdlich, auch wenn man darin nicht gleich ein Symptom für den Untergangs der Sprache sehen sollte. Siehe auch meinen Blog-Beitrag zu Emojis am 25.2.2015. 👍

In Emojipedia findet man verschiedene grafische Umsetzungen des Emojis mit dem Unicode U+1F602 von Apple, Google, Microsoft, Samsung usw. (06.12.2015)

Nachtrag. Zwei Sätze zu Emojis durfte ich im SWR 3 im Magazin „Kunscht“ äußeren. Der  Beitrag ist inzwischen nicht mehr abrufbar. (11.01.2016)

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Klebekampf

Wie schon verkündet: In Tübingen wird geklebt, was das Zeug hält. Neuer Trend: Aufkleber überkleben. Aber nicht immer ist wirklich ein rechter Aufkleber darunter. Mit der Aktion wird die Verbreitung der rechten Propaganda überschätzt. (03.12.2015)

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Überklebt oder nur aufgeklebt? Und was ist wohl darunter? Foto: St.-P. Ballstaedt

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Flöckeln

Mein Lieblingswort im Dezember 2015 steht nicht im Duden und auch nicht im Wortschatz der Uni Leipzig, aber im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: flöckeln, „in kleinen, dünnen Flocken niederfallen“. Nach meiner Erinnerung habe ich es erstmals im Wetterbericht bei Kachelmann gehört. Das Wort ist ein schönes Beispiel für die Möglichkeiten der deutschen Wortbildung: Aus einem Nomen (Flocke) wird ein diminutives Verb, das eine geringere Intensität ausdrückt. Andere Verben nach diesem Muster sind „hüsteln“ oder „lächeln“.

Erst jetzt habe ich entdeckt, dass es ein „Lexikon der schönen Wörter“ von Walter Krämer & Roland Kaehlbrandt gibt. Aber mein Lieblingswort November 2015 „Gedankengut“ ist nicht dabei! (01.12.2015)

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Verklebt

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Tübingen wird derzeit verklebt, noch nie habe ich so viele Aufkleber an Geländern und Masten gesehen. Die Hauptthemen: Refugees, Cannabis, Tierversuche, Anti-Faschismus, Burschenschaften, Jesus (dazu kommen unzählige Werbeaufkleber). Aufkleber sind eine Möglichkeit, diskret und unerkannt Gesinnung zu demonstrieren. Foto: St.-P. Ballstaedt (30.11.2015)

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Politplakate

Bei meinem Besuchen in der Schweiz fallen mir immer mal wieder politische Plakate auf, meist von der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Ich erfreche mich natürlich nicht, die Politik unseres Nachbarn zu kommentieren, sondern will auf die Ästhetik der Plakate aufmerksam machen. Zwei Beispiele:

Das Plakat zur Volksinitiative für die „Ausschaffung krimineller Ausländer“: Auf einer roten Fläche mit Schweizer Kreuz (Flagge?) stehen drei weiße Schafe, von denen eines ein schwarzes Schaf aus dem roten Bereich hinaustritt. Die verbale Botschaft: Sicherheit schaffen.

Das Anti-Minarett-Plakat zeigt eine Muslima im schwarzen Niqab, neben der wieder auf Schweizer Boden schwarze Minarette wie Raketen aufragen. Die verbale Botschaft: Stopp: Ja zum Minarettverbot.

Die Darstellungen sind stereotyp, flächig, holzschnittartig und visualisieren damit perfekt die politische Botschaft. Die Plakate fallen ins Auge: Es dominieren Schwarz und vor allem Signalrot, das wirkt bedrohlich.

Wer hat`s erfunden? Kein Schweizer, sondern ein gebürtiger Hamburger, der mit GOAL eine Agentur für Werbung und PR in der Schweiz betreibt. Seine Plakatmotive haben bei Nationalisten vieler Ländern Anklang gefunden und werden plagiiert. In Gelsenkirchen habe ich das Minarett-Verbot auch als Aufkleber gefunden. Es gibt aber auch viele hübsche Plakatverhunzungen im Web. (29.11.2015)

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Das Prinzip von Werbefachmann Alexander Segert: „Keep it simple and stupid“. Das gelingt ihm gut!

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Marienbad

1961 hatte der Film „L’ Année dernière à Marienbad“ Premiere, Regie Alain Resnais, Drehbuch Alain Robbe-Grillet. Bis heute ein Film, an dem sich Interpreten abarbeiten können, da er Wirklichkeit, Traum und Erinnerung so virtuos vermischt, dass immer zahlreiche Deutungen möglich sind.

Die Kunsthalle Bremen zeigt eine Ausstellung „Letztes Jahr in Marienbad: Ein Film als Kunstwerk.“ Die Ausstellung geht der Bedeutung dieses Films für die Ästhetik der Nouvelle Vague nach. An einer Wand sind die Filmplakate gehängt und auf den ersten Blick fällt auf, wie unterschiedlich sie sind. Jeder Grafiker hat seine Interpretation umgesetzt: vom Liebesfilm über Traumszenarien bis zum Horrorstreifen. (25.11.2015)

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Ein offenes Kunstwerk mit vielen Interpretationen, die sich auch in den Filmplakaten spiegeln. Foto: Wolfgang Scherer

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Angelhaken

Ein Fisch, der an den Angelhaken gelockt wird, ist ein Motiv, das gern im Marketing als Visualisierung für die Kundenakquise verwendet wird. Aber was es auf dem Lissaboner Pflaster zu suchen hat, bleibt ein Geheimnis. (23.11.2015)

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Zeichenhunter Max fotografiert in Lissabon (Belem an der Strandstraße) ein semiotisches Objekt. Foto: Max Steinacher

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