Nach dem Schreiben jetzt das Lesen. Zu meiner Studienzeit versprach Ernst Ott (1970): Optimales Lesen: schneller lesen, mehr behalten! Jetzt vermittelt Peter Rösler (2016) Grundlagen des Schnelllesens, dazwischen liegen unzählige Publikationen zum Speedreading mit dem Versprechen: schneller lesen, mehr verstehen, mehr behalten! Was soll man davon halten?
Wenn man den renommierten amerikanischen Leseforscher Keith Rayner und sein Team (2012) konsultiert, dann sind das unhaltbare Versprechungen. Zunächst gibt es wenig methodisch saubere empirische Studien, die normale Leser und Schnellleser nach einem Kurs vergleichen. Die Erhebungen der Lesegeschwindigkeit und die Verstehenstest vorher und nachher halten einer kritischen Betrachtung nicht stand.
Tatsächlich gibt es langsame und schnelle Leser. Die langsamen verarbeiten etwa 200 Wörter pro Minute, die schnellen schaffen bis 500. Was macht Lesen schneller: weniger und kürzere Fixationen auf einer Zeile, weniger Rücksprünge und schnelles Überfliegen des Textes (Skimming). Am meisten wird die Lesegeschwindigkeit durch das Vorwissen beeinflusst: Wer über ein Gebiet schon viel weiß, der kann auch z.B. in der Zeitung einen Text schnell durchschauen und das für ihn Neue herauspicken. Diese Lesart ist für Personen, die viel mit Texten zu tun haben, eine nützliche Fähigkeit. Eine Steigerung der Leserrate ist auch ohne Kurs möglich, einfach durch viel lesen. Wird dabei auch verstanden und besser behalten? Nein, meist sinken die Werte in einem Verstehenstest gegenüber dem normalen Lesen, es sei denn, die lesende Person ist ein Experte auf dem Gebiet oder der Text ist inhaltlich sehr einfach.
Viele Turbolese-Kurse setzen sich das Ziel, das ist das innere Sprechen zu vermeiden, mit dem wir das Lesen meist begleiten. Direkt vom Wort zum Konzept, ohne den Umweg über die Sprache, das soll die Lesegeschwindigkeit erhöhen. Das rein visuelle Lesen ist tatsächlich möglich, geht aber wieder auf Kosten des Verstehens, wie Untersuchungen ergeben haben.
Fazit: Das Versprechen, die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen ohne das Verstehen zu beeinträchtigen, lässt sich nicht einlösen. Vermutlich liegt der Engpass gar nicht bei den Augenbewegungen, also dem visuellen Auflesen, sondern im konzeptuelle Bereich, der begrifflichen Verarbeitung. Was die Speedreading-Kurse allerdings einüben können, ist das Skimming, das schnelle Überfliegen von Texten zur Suche relevanter und neuer Informationen.
Zum Schluss ein berühmter Scherz von Woody Allen. „I took a speed reading course and read “War and Peace” in two minutes. It`s about Russia.” (31.01.2019)
Keith Rayner, Alexander Pollatsek, Jane Ashby & Charles Clifton (2012). Psychology of reading. New York/London: Psychology Press. Kap. 13: Speed reading, proofreading, and individual differences (S. 377-395).
Prof. Ballstaedt hat mich gebeten, meine Mail an ihn auch als Blog-Kommentar hochzuladen, was ich hiermit gerne tue:
Hallo Herr Prof. Ballstaedt,
ich habe gerade nach „Grundlagen des Schnell-Lesens“ gegoogelt und bin auf Ihre Seite https://www.ballstaedt-kommunikation.de/schnelles-lesen/ gestoßen.
Sie beschreiben ganz richtig die überwiegende Mehrheitsmeinung der Leseforscher wie Keith Rayner zum Schnell-Lesen. Und die Kritik der Leseforscher gegenüber Schnell-Lese-Kursen ist empirisch auch fundiert: Wann immer ein Schnell-Lese-Kurs untersucht wird, zeigt sich, dass die Teilnehmer ins überfliegende Lesen geraten. (Das schreibe ich auch in meinem Buch und kritisiere das von „Marketingaussagen und Wunschdenken geprägte Gebiet »Schnell-Lesen«.“) Dazu muss man aber auch wissen, dass über 99% der Teilnehmer sich an Kursen einschreiben, die nur 1-2 Tage dauern.
In meinem Buch berichte ich aber (in Kenntnis der meisten Publikationen zu Schnell-Lesen, sowohl positiv wie negativ) über neue empirische Daten von Teilnehmern, die wochen- und monatelang trainiert haben. Mein „Claim“ ist nur eine durchschnittliche Tempoerhöhung von 4,4 Wpm pro Tag. Das ist nur etwa ein 30stel dessen, was typische 1-2-Tageskurse versprechen, nämlich ungefähr 125 Wpm pro Tag.
Keith Rayner und seine Kollegen haben mit Sicherheit noch keine langdauernden Trainings untersucht, daher ist m.E. eine differenzierte Aussage über Schnell-Lese-Kurse in Abhängigkeit von ihrer Länge nötig.
Ich hänge das pdf des Buchs an (herunterladbar unter http://www.grundlagen-des-schnell-lesens.de/Grundlagen_des_Schnell-Lesens_Roesler_2016.pdf) und Sie können sich wahrscheinlich schnell eine Meinung bilden, wie wissenschaftsnah das Fachgebiet Schnell-Lesen in diesem Buch behandelt ist und ob sich ein „zweiter Blick“ der Leseforscher auf das Schnell-Lesen lohnt. Fachkollegen von Ihnen schreiben folgendes:
Prof. Dr. Jochen Musch, Institut für Experimentelle Psychologie, Universität Düsseldorf: »Was das Buch von Peter Rösler wohltuend von anderen Schnell-Lese-Büchern unterscheidet, ist der kritische Ansatz des Autors und die Kenntnis und Berücksichtigung der einschlägigen wissenschaftlichen Forschung. Methodische Probleme und Hindernisse werden klar benannt und nicht einfach weggewischt. Ich würde mir wünschen, dass sich alle Schnell-Lese-Trainings an dieser Herangehensweise orientieren.«
Prof. Bruce Brown, PhD, Department of Psychology at Brigham Young University, Provo, Utah: »Thank you for the wonderful day of instruction, illumination, and discussion. I learned speed reading by Evelyn Wood herself, did research and published on speed reading. You have re-awakened my interest in the rapid reading phenomenon. I believe that you have a better understanding of the nature of speed reading than anyone I’ve met.«