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Jugendsprache

Eine stets vergnügliche Lektüre ist das neue Langenscheidt-Wörterbuch zur Jugendsprache: „100 % Jugendsprache 2015„, seiner Zeit sprachlich immer ein Jahr voraus. Die Wörter werden von Jugendlichen über die Website www.jugendwort.de oder per Mail eingereicht. Hier kann man sprachliche Kreativität bewundern. Ich habe ein paar Fundstücke herausgefischt:

Gaumenfick (= positives Geschmackserlebnis); Fußpils (= Bier für unterwegs); Foodback (= Erbrechen). Natürlich spielt der sexuelle Bereich eine besondere Rolle: Brombeersex (= Sex mit einer Person mit stoppeligem Intimbereich); Komasutra (= vergeblicher Beischlafversuch im Suff). Aber auch die Bildung kommt nicht zu kurz: Wer oberflächliches Wissen aus dem Internet verbreitet, ist ein Wikiwisser; ein Galileo-Professor hat sich mit ProSieben gebildet, ein Senfautomat ist ein Klugschwätzer. Auch aktuelle Ereignisse spiegeln sich im Vokabular: entsnowden (= aufdecken); tebarzen (= sich etwas Teures leisten); guttenbergen (= abschreiben). Das Arschgeweih ist jetzt der Schlampenstempel, das Maurerdekolleté ist die sichtbare Pospalte beim Vorbeugen.

Kaum eines der Wörter schafft es in die Standardsprache. Sie dienen vor allem der provokativen Abgrenzung. (17.11.2014)

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Pornobalken

Das Wort habe ich in der Zeitung gelesen, kannte es nicht und habe deshalb recherchiert. Es gibt zwei Quellen: 1. Pejorative Bezeichnung für einen kurzrasierten, dünnen Oberlippenbart. Das Wort kommt aus der Pornobranche, wo sich in den 70er Jahren viele Darsteller die Gesichtszierde des Pornostars John Holmes zum Vorbild nahmen. 2. Schwarzer Balken, der bis in die 60er Jahre die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale auf Filmplakaten oder in Schaukästen von Striplokalen abdeckte. Heute ist er höher gerutscht und dient der Gesichtswahrung.

Frau-2_censored_de    Foto am 24.12.13 um 17.25

 

 

 

 

Pornobalken bei einem Model für ein Biologiebuch. Foto: Ralf Rolitschek, Wikipedia. Gesichtsbalken bei einem Kriminellen. Foto: St.-P. Ballstaedt (16.11.2014)

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Transparenz

Gold-Zack

Transparentbilder sind in der technischen Kommunikation häufig, aber in dieser Werbung für Gold-Zack Gummilitzen aus der BRIGITTE ungewöhnlich. Vermutlich 60ger Jahre. (13.11.2014)

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Obey

Obey

Auf Tübinger Betonwänden ist dieses Stencil zu finden. Trotz längerer Recherchen habe ich den Hintergrund noch nicht geklärt. Die Obey-Giant-Kampagne geht auf den amerikanischen Street-Art-Künstler und Grafiker Shephard Fairly zurück, aber das Motiv finde ich nirgends. Vielleicht kann jemand helfen? Foto: St.-P. Ballstaedt (12.11.2014)

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Pinkelverbot

Pinkelverbot1   Pinkelverbot2

Zwei Verbotspiktogramme, links aus der Schweiz, rechts aus Deutschland. Der deutsche Pinkler wirkt depressiv und produziert einen geradlinigen, aber kurzen Strahl. Der schweizer Pinkler sieht eleganter aus und schaut mit Produktstolz auf die breitflächige Lache. Der Schweizer ist nur durchgestrichen, der Deutsche durchgekreuzt. (09.11.2014)

Nachtrag. Eine Passage aus James Joyce: Ulysses. Bloom und Stephan urinieren nebeneinander: “Die Bahnen ihrer zuerst aufeinanderfolgenden, dann gleichzeitigen Strahlen waren unähnlich: Blooms war länger, weniger irruent, zeigte, wenn auch nicht vollständig, die Form des gegabelten, vorletzten Buchstabens des Alphabets […]. Stephans war höher, zischender, denn er hatte in den letzten Stunden des vorrübergehenden Tages durch die Aufnahme diuretischer Dinge einen großen Blasendruck erreicht.”

Nachtrag. Hier noch ein Pinkelverbot aus Motzen in Brandenburg. (26.08.2015)

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Grafisch sehr gelungen ist die Wirkung des Gestaltgesetzes der guten Fortsetzung: Der Arm geht mit elegentem Schwung in den Penis über. Foto: Wolfgang Scherer

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Holzwegsätze

Im Englischen nennt man sie Garden-path-Sätze, ein anderes deutsches Wort ist Sack­gassensätze. Bei diesen Sätzen erweist sich das anfängliche Verständnis im Fortgang als falsch. Eindrucksvolle Fälle bietet vor allem die englische Sprache, hier der linguistische Lehrbuchklassiker:

The horse raced past the barn fell.

Der Effekt tritt auf, wenn über eine längere Wortkette des Satzes hinweg eine bestimmte Interpretation nahegelegt wird, die sich dann bei einem bestimmten Wort – hier: fell – als irrig erweist. Beispiele im Deutschen wirken nur bei Verzicht auf die Zeichen­setzung. Meine Sammlung:

Er hatte geglaubt dass das Mädchen das Fleisch liebte Vegetarierin war.

Helen und Monika spielen dauernd mit Gretchen und Caroline mit dem Ball bleibt allein.

Charles heiratet bestimmt Lady Di an einem Sonntag in der Kirche nur Gerdi.

Hans versprach Maria im Urlaub keine Zigaretten mehr anzuvertrauen.

Psycholinguistisch sind Holzwegsätze interessant, denn sie belegen, dass wir das Verständnis eines Satz von links nach rechts und Wortgruppe für Wortgruppe aufbauen (Fachwort: inkrementell). Es wird zunächst immer die – im wahrsten Sinnen des Wortes – naheliegendste syntaktische Interpretation angenommen. (08.11.2014)

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Briefmarken

Das kleinste visuelle Häppchen in unsere Kultur ist die Briefmarke. Zwar bedroht durch Frankiermaschinen und Automatenmarken, aber die Post bringt beständig noch jeden Monat ein neues Set heraus. In diesem November eine Sondermarke zum 200. Geburtstag des Physikers Julius Robert von Mayer (er formulierte das Gesetz von der Erhaltung der Energie). Der Auftrag zur Gestaltung ging an Sascha Lobe, Professor für Typografie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Und der arbeitete – wen wundert´s – nur mit typografischen Mitteln: Schriften und einer Art Strichkode. Viele Freunde der kleinen Bildchen finden die Marke allerdings „missraten, hässlich, entsetzlich“, so Gerd Claßen, der Vorsitzende des Heilbronner Philatelisten-Vereins. Der Verein gab eine eigene Briefmarke heraus, denn individuelle Marken kann man über die Post ja gestalten. Die Marke zeigt – ja was wohl – ein Portrait des Wissenschaftlers. (06.11.2014)

Briefmarke  99628edd_h

Zum ästhetischen Vergleich: Sondermarke der Deutschen Post und individuelle Marke des Heilbronner Philatelistenvereins.

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Toilette für alle

Toiletten-Piktogramme habe ich seit langem im Visier und kann auf eine Sammlung verschiedener grafischer Lösungen zurückgreifen. Besonders die Darstellung der Frau nehme ich gern als Beispiel, dass Piktogramme kulturelle Verstehensvoraussetzungen haben. Der Midi-Glockenrock ist nicht typisch für eine Frau und Kleidung diskriminiert die Geschlechter ohnehin nur unzureichend. Das tun eigentlich nur biologische Merkmale, die man aber schamhaft weglässt. Jetzt werden in Berlin Unisex-Toiletten eingeführt, in denen Männer und Frauen nicht mehr getrennt verrichten müssen. Das Logo für diese Anstalten ist biologisch korrekt, aber jetzt fühlen sich inter- und transsexuelle Menschen diskriminiert.

aiga-toilets       Public restroom at the Teddy ceremony as part of the 63rd annual Berlin International Film Festival aka Berlinale, in Berlin, Germany, 15 February 2013. The 27th Teddy Award is on of the most prestigious queer film prizes. As a symbol of political engagement, the award is presented in recognition of films and individuals involved in communicating queer issues to a wide audience. Photo: Jens Kalaene/dpa

Nicht mehr getrennt, sondern vereint: Piktogramm für eine herkömmliche und eine Unisex-Toilette. (04.11.2014)

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Gniedeln

In einer Rezension der Tournee „Mitten im Leben“ von Udo Jürgens schreibt Volker Schmidt heute in der Frankfurter Rundschau: „Im Lied ‚Der gläserne Mensch’ darf der Gitarrist aus dem Orchester, Pepe Lienhard, ein verzerrtes Solo gniedeln.“ Das Verb „gniedeln“ habe ich noch nie gehört oder gelesen, also wird recherchiert. Und tatsächlich, das Wort ist selten, aber nicht ungebräuchlich. Es stammt aus dem Nordostdeutschen und bedeutet „ein Streichinstrument schlecht spielen“. Das abgeleitete Adjektiv „gniedelig“ bedeutet „kratzig“. Und ich finde noch eine Belegstelle am 31.12. 2010 in der FR-online, diesmal von Jens Balzer: „ […] Ensembles wie das Animal Collective, die das seit Hippie-Zeiten stigmatisierte endlose Daddeln und Gniedeln wieder in den Pop einführten.“ Das hübsche Wort übernehme ich hiermit in meinen aktiven Wortschatz. (03.11.2014).

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Schilderwald 2

Schilderwald2

Häufung von sprachlichen und visuellen Symbolen in den Rheinauen bei Burkheim am Kaiserstuhl. Man könnte von einer semiotischen Umweltverschmutzung sprechen. Foto: St.-P. Ballstaedt (01.11.2014)

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