Fränzi

Vom Verfranzen zu Fränzi, dem Kindermodell von Ernst Ludwig Kirchner. Eine Zeichnung von ihm: „Liegender nackter Mann mit Kind auf dem Rücken“ ist jetzt in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen: Es zeigt ein nacktes Mädchen mit roten Haaren in sexualisierter Pose auf dem Rücken eines Mannes sitzen, die Schenkel gespreizt, man sieht die rot akzenutierte Vulva. Es handelt sich um Lina Franziska Fehrmann, genannt Fränzi im Alter von neun Jahren. Auch von anderen Brücke-Künstlern wie Erich Heckel und Max Pechstein wurde sie in erotischen Posen gemalt. Sie war im Künsterjargon die Muse der Maler.

Nach den vielen Missbrauchsskandalen hat sich der Blick auf diese Bilder geändert, sie erregen bei Betrachtenden Anstoß. Darf man ein derartiges Bild ausstellen? Der Kunsthistoriker Felix Krämer sieht darin eindeutig eine Missbrauchsdarstellung, der Kulturjournalist Christian Saehrendt spricht von „ästhetisch-erotischer Ausbeutung Minderjähriger“. Pädophile Motive sind in Kirchners Bildern oft zu finden, aber was damals wirklich zwischen den Malern und ihren Modellen, auch erwachsene Frauen, ablief, das wissen wir nicht. Gern wird eine Tagebuchnotiz von Kirchner zitiert: „Heckel als geiler Sachse stürzte sich auf sie und vögelte sie ab“, aber wer mit „sie“ gemeint ist, bleibt unklar (Fränzi war es sicher nicht).

Dass es zwischen Kindern und Erwachsenen zu erotischer Anziehung kommen kann, wird niemand leugnen, nachdem Sigmund Freud dem Kind den Nimbus des Reinen und Asexuellen genommen hat. Das entscheidende ist: Der Erwachsene hat eine moralische Verpflichtung, derartigen Impulsen nicht nachzugeben, da ein Kind in Abhängigkeit nicht frei entscheiden kann. Pädophilie ist eine Tatsache, ihre Behandlung sehr schwierig, die Neigung bekommt man nicht wegtherapiert, aber den Umgang mit den Impulsen kann man zu steuern lernen.

Kunst zeigt nicht die Wirklichkeit, sondern eine Vorstellung von Wirklichkeit, Kunst zeigt auch unsere Fantasien und Alpträume. Wenn wir hier zensieren, dann werden viele Bildwerke abgehängt werden müssen. Sicher alles von Balthus, der Liebesbeziehungen zu mehreren Minderjährigen unterhielt. Oder von Paul Gauguin, der auf Tahiti eine 13-Jährige zur Frau nahm. Vor allem die Mädchenakte von Egon Schiele, der allerdings dafür bereits inhaftiert wurde. Edvard Munch sorgte mit seinem Bild „Pubertät“ 1894 für einen Skandal. Und Klimt? Und Picasso? Der Roman „Lolita“ müsste auch makuliert werden, usw. usw…. (18.07.2018)

Nachtrag: Einen Tag nach meinem Beitrag bekam ich einen Artikel von Bailey Sebastian & Scott R. Stroud, „#MeToo_and the_Arts“, der das Problem am Beispiel des berühmten Gemäldes „Thérèse Dreaming“ von Balthus diskutiert. Eine Besucherin des Metropolitan Museum of Art hatte Anstoß an dem Bild genommen und in einer Online-Petition das Abhängen von Bilder verlangt, in denen Menschen sexualisiert dargestellt werden. Derartige Bilder förderten den Voyeurismus. Inzwischen geht die Diskussion allerdings in die Richtung, dass ein Museum die Verantwortung hat, derartige Bilder in einen kulturhistorischen Kontext zu stellen und damit eine Diskussion über die Rolle der Frau anzuregen. (19.07.2018)

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  1. Korrekte Bilder | Steffen-Peter Ballstaedt - 3. Juli 2020

    […] Fälle, in denen sich Betrachtende über sexistische Inhalte beschweren, habe ich in einem Beitrag bereits berichtet: Es ging um ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner und eines von Balthus […]

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