Präsenz

Einen offenen Brief „Zur Verteidigung der Präsenzlehre“ als Grundlage eines universitären Lebens haben bisher 5455 Hochschulangehörige unterschrieben. Sie befürchten, dass durch die Corona-Krise die digitale und virtuelle Lehre die Präsenzlehre verdrängen könnte. Dabei sind Formulierungen zu lesen, die an humboldt‘sche Ideale erinnern: „Universität als Ort der Begegnung“, als „gemeinsam belebter sozialer Raum“ mit „einem kritischen kooperativen und vertrauensvollen Austausch mündiger Menschen“. Ob die üblichen Vorlesungen und Seminare diesem Anspruch genügen?

Die Vorlesung ist eine veraltete Lehrform aus dem Mittelalter, als Bücher noch nicht gedruckt waren. Der Professor hat eine Passage vorgelesen und dann kommentiert, die Studierenden schrieben mit: Frontalunterricht. Ich halte die Vorlesung nur noch in drei Fällen für sinnvoll: 1. Wenn tatsächlich neue Inhalte aus der Forschung berichtet werden, die man so noch nicht in Lehrbüchern nachlesen kann. 2. Wenn der Professor eine rhetorische Begabung zur sprachlichen Vermittlung hat, wenn er Ideen im Kopf der Zuhörenden entzünden kann. 3. Wenn die Zuhörenden durch interaktive Komponenten einbezogen werden, bei spielen auch digitale Medien eine Rolle.

Was Seminare betrifft, so habe ich viele besucht und selbst durchgeführt, die wenigsten waren diskussionsfreudig und kreativ, meist bestanden sie aus einer Abfolge von Referaten und Präsentationen mit anschließend ein paar Fragen immer derselben Studierenden. Jetzt mache ich Erfahrungen mit Online-Präsenz-Seminaren über Zoom. Noch ist das anstrengend, da man erst die Software völlig beherrschen muss, um wieder die Inhalte zu fokussieren. Aber gefragt, gechattet und diskutiert wird hier oft mehr als im Seminarraum.

Was ich sagen möchte: Wenn die Corona-Krise eine Rückbesinnung auf das humboldtsche Ideal einer universitären Gemeinschaft und seine tatsächliche Umsetzung einleiten würde, dann wäre das erfreulich. Für die Vermittlung von Grundlagen, z.B. Methoden, sind virtuelle Formate aber durchaus geeignet, um mehr Raum und Zeit für den „Ort der Begegnung“ zu haben. (05.07.2020)

Ort der Begegnung: Hörsaal an der RWTH Aachen. Quelle: Wikimedia Commons.

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