Der Semiotiker bei der Arbeit in einem Kreuzberger Pissoir. Foto: St.-P. Ballstaedt (16.04.2016)
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Selbstportraits und Selfies
Im Brücke-Museum Berlin ist eine kleine Ausstellung „Bild und Selbstbild“ zu sehen, mit zahlreichen Selbstportraits von Karl Schmidt-Rottluff. Er hat sich sehr häufig selbst gezeichnet, in Holz geschnitten und gemalt. Man denkt unwillkürlich an die Selfies, die heute in Mengen aufgenommen werden und erkennt sofort einen gravierenden Unterschied: Schmidt-Rottluff erkundet in seinen Selbstbildnissen seinen eigenen Gemütszustand, sie sind kritische Selbstbefragungen. Die Selfies sind narzistische Bespiegelungen zum Zwecke des Impression Managements: Nicht wie sehe und fühle ich mich gerade, sondern wie möchte ich gesehen werden. (15.04.2016).
Eine von vielen Selbstanalysen von Schmidt-Rottluff. Quelle: https://vimeo.com
Museumsdidaktik
In Berlin war ich in den letzten Tagen in einigen Museen und habe wieder eine Erfahrung gemacht, die ich in den letzten Jahren in etlichen Museen gemacht habe: Die Beschriftungen der Bilder oder anderer Exponate sind absolut leseunfreundlich. Mickrige Schriftgröße, oft Schriftstärke light und dann noch geringer Kontrast, z.B. grau auf weiß. Manchmal sind die Schildchen zudem so angebracht, dass man sich bücken muss, um sie zu lesen. Ich weiß, dass ich hier vor allem ein Problem für Alterssichtige anspreche, aber die machen nach meinen Beobachtungen ¾ der Besucher aus. Warum kümmert sich kein Ausstellungsdidaktiker um leserliche Beschriftungen? Das Wissen dazu ist vorhanden! (13.04.2016)
Jiddismen
Nach Gallizismen, Anglizismen, Austriazismen, Helvetismen ein kurzer Blick auf Jiddismen, das sind Wörter, die aus dem Hebräischen über das Jiddische in das Deutsche eingewandert sind: Schlamassel, meschugge, Tacheles, Schickse, Macke, abzocken, Kies (= Geld), Tinnef. Jiddismen sind für viele „täuschende Wörter“ zuständig, bei denen wir etymologisch in die Irre geführt werden. Wer einem „Hals- und Beinbruch“ wünscht, benutzt eine verballhornte hebräische Zwillingsformel „hazlóche un bróche“, die ursprünglich „Glück und Segen“ bedeutet. – Ein Rat „für lau“ ist unentgeltlich, hat aber nichts mit den Temperatur zu tun, sondern kommt aus dem jiddischen „lo“ ab, das „nichts“ bedeutet. – Wer Miese auf dem Konto hat, dem geht es mies, aber beide Wörter gehen nicht auf das das lateinische „miseria“ zurück, sondern auf ein aramäisches Wort für „widerlich“. – Wer ausgekocht ist, verhält sich besonders klug, das Wort kommt aus dem hebräischen „chochem“ = „weise, klug“. (10.04.2016)
Lektüretipps:
Christoph Gutknecht: Gauner, Grosskotz, kesse Lola. Deutsch-Jiddische Wortgeschichten. Berlin: be.bra verlag, 2016.
Heike Olschansky: Täuschende Wörter. Kleines Lexikon der Volksetymologien. Stuttgart: Reclam, 2009.
Semiotic Landscapes
Seit Jahren dokumentiere ich unsystematisch Zeichen im öffentlichen Raum, Plakate, Schilder, Graffiti, Stencils, Aufkleber, Piktogramme, Wegzeichen usw., wobei ich bisher weitgehend auf Werbung verzichtet habe (aber das sehe ich inzwischen als Fehler). Da diese Sammelei eher als Schrulle angesehen wird, möchte ich darauf verweisen, dass es eine Forschungsrichtung zwischen Soziologie, Geographie und Semiotik gibt, die Semiotic Landscapes untersucht: die Geosemiotic. Wir sind, vor allem im urbanen Raum, von multimodalem Zeichenmaterial umzingelt und selbst die sogenannte natürliche Umwelt wird symbolisch interpretiert. Die Geosemiotic interessiert sich für alle kulturellen Spuren in unserer Umgebung, von der Architektur bis zum Graffito an der Mauer. Es gibt es Untersuchungen über bestimmte Plätze, Stadtteile, Städte (Jaworski/Thurlow, 2010). Ein Beispiel: Ein Student hat vor einigen Jahren als Bachelorarbeit eine Untersuchung an geparkten Autos in Gelsenkirchen durchgeführt und herausgefunden, dass sich symbolisches Material an und in Autos vor allem bei den unteren Fahrzeugklassen findet. Oder: Je feiner das Auto, desto weniger semiotisches Material. Wie immer gibt es natürlich Vorläufer wie Aby Warburg oder Roland Barth, aber der interdisziplinäre Ansatz geht über diese wichtigen Vorarbeiten deutlich hinaus. (07.04.2016)
Semiotic Landscapes: der Hamburger Hauptbahnhof und eine verlassene Hütte bei Prerow. Fotos: St.-P. Ballstaedt
Unglücklich getrennt
Schwester Anna Elisabeth lebt im Koster der Kongregation der Tertiarschwestern des heiligen Franziskus in Brixen. (06.04.2016)
Korrekt, aber etwas unglücklich getrennt, vgl. Urin-stinkt. Quelle: Frankfurter Rundschau, 5.4.2016.
Auftragsarbeit
Während man sich in Tübingen über wilde Graffiti aufregt, kann man sich jetzt auch über ein in Auftrag gegebenes Graffito aufregen. Es ist am Verkehrsverein am Neckar zu bewundern. Auf dem Bug eines Stocherkahns schaut eine Person sinnend über den Fluss, der durch urwaldartige Gefilde strömt. (05.04.2016)
Stadtmarketing: Auffällig ist das Bild schon, aber ein moderner Malstil hätte es auch sein können. Foto: St.-P. Ballstaedt
Inflektive
Comic-Leser- und Leserinnen kennen die unflektierten Wortformen, bei denen das Verb auf seinen Stamm reduziert wird: rumpel, grins, grübel, laber. Oft handelt es sich um lautmalerische (onomatopoetische) Wörter: ächz, quietsch, seufz, farz, mit Betonung: bremssss, surrrrr.
Der Inflektiv, so die Bezeichnung des Germanisten Oliver Teuber, wird zur Wortart der Interjektionen gerechnet. Scherzhaft wird er auch als Erikativ bezeichnet, als Hommage an Erika Fuchs, die Übersetzerin der Micky-Maus-Comics von Carl Barks. Ihr haben wir eine weite Verbreitung dieser Wörter zu verdanken, aber auch Wilhelm Busch hat sie bereits benutzt: „Und geschwinde, stopf, stopf, stopf! Pulver in den Pfeifenkopf.“
Inzwischen tauchen mehrgliedrige Inflektive oft in der Sprache der Chats und SMS auf: ganztollknuddel, treuherzigblick. Die einen sehen darin eine Verhunzung des Deutschen, die anderen einen kreativen Sprachgebrauch. (04.04.2016)
Inflektive in Walt Disneys Micky Maus: Jagd nach der Wunderwaage, Nr. 7, 8.2.1969, S.47. Scan: St.-P. Ballstaedt
Sex mit Zanzu
Als Projekt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) und dem Flämischen Expertenzentrum für Sexuelle Gesundheit (Sensoa) ging die Website „Zanzu. Mein Körper in Wort und Bild“ 2015 online. Gedacht ist die Internetseite primär für Migrantinnen und Migranten mit geringen Sprachkenntnissen und geringen Kenntnissen über Körper und Sex. Aber auch andere Gruppen mit derartigen Problemen sind auch adressiert. Die Site bietet 13 Sprachen an, die Navigation ist einfach, es gibt eine Vorlesefunktion, ein Wörterbuch und viele Bilder.
Sexualkunde war schon immer ein Aufreger: Was vermittelt man, was lässt man weg. So handelt es sich um kein Kamasutra, in dem auch noch die „Hausnummer“ als Position gezeigt wird. Aber die wichtigsten sexuellen Spielarten werden neutral und sachlich vorgestellt. Eine guter Quickstart sozusagen. Natürlich gibt es im Detail Kritik, so sind die Formulierungen doch noch recht komplex, eine Variante in Einfacher Sprache und Gebärdensprache ist in der Mache. Warum das Thema Jungfernhäutchen ausführlich behandelt wird, das hat wohl mit unseren islamischen Flüchtlingen zu tun.
Der visuelle Anteil besteht aus einem Satz von Piktogrammen zur Navigation. Sie zeigen meist Silhouetten-Personen, die mit einem Symbol oder einem Smiley kombiniert sind. Es wäre eine interessante Aufgabe zu klären, ob die Piktogramme interkulturell verstanden werden. Einige Piktogramme sind wohl etwas zu komplex und ohne sprachliche Unterschrift nicht verständlich, z.B. das für Jungfräulichkeit, aber die Visualisierung dieses Abstraktums ist auch eine schwierige Aufgabe. Andere Piktogramme sind explizit, was kommunikativ durchaus sinnvoll ist, z. das für Jungfernhäutchen.
Zur Veranschaulichung gibt es pastellfarbige Zeichnungen und ein paar Fotos (z.B. von Präservativen). Man hat sich große Mühe mit der political correctness gegeben: Es werden Pärchen in allen ethnischen Kombinationen angeboten: beide weiß, beide schwarz, Frau schwarz/Mann weiß, Mann schwarz/Frau weiß. Die Website wird von rechtspopulistischen Gruppen trotzdem scharf angegangen, weil sie angeblich Sex von Migranten und Flüchtlingen mit einheimischen Frauen fördert und zur Rassenmischung beträgt. (03.04.2016)
Filmanzeiger
Aus der Mode gekommen und nur noch selten zu sehen: Die roten Blockbuchstaben, mit denen ein Kino die laufenden Filme anzeigt. Es ist auch umständlich, alle paar Tage auf einer Leiter die roten Plastikbuchstaben in die Führungsschienen zu schieben. Zudem sind manchmal auch fremdsprachliche Kenntnisse gefordert. (02.04.2016)
Das Kino Museum in Tübingen wirbt noch mit den roten Blockbuchstaben. Foto: St.-P. Ballstaedt. Anzeige des Films „The place beyond the pines“ im Studio im Isabella in München. Foto: Jürgen Heinze (auf Facebook)