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Buchpreis

Warum ein Roman den Deutschen Buchpreis bekommt, ist für einen dem Literaturbetrieb außenstehenden Lesenden oft nicht nachvollziehbar. 2025 wurde als bester Roman „Die Holländerinnen“ von Dorothee Elmiger ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury: „Dieser Roman ist ein Ereignis…ein faszinierender Trip ins Herz der Finsternis“, ein diskreter Verweis auf den Roman von Josef Conrad.

Ausgangspunkt ist das Verschwinden zweier Studierender im Dschungel Panamas, deren Schicksal ungeklärt ist. Die Autorin interessiert sich auch nicht für die Vermissten, der Roman beschreibt das Projekt eines Theatermachers (Werner Herzog, Christoph Schliengensief, Milo Rau?), der den Fall rekonstruieren möchte, indem er den Weg der beiden Frauen in den Dschungel nachvollzieht. Es geht dabei weniger um die Sicherung von Fakten, die sind bekannt, sondern um Nacherleben der Situation der beiden Frauen, sozusagen eine stellvertretende Psychoanalyse. In seiner Crew nimmt er auch eine Autorin mit, sie soll die Aktion protokollieren und gerät dabei in eine existentielle Krise und eine Schreibkrise. Darüber erzählt sie in einigen Vorträgen. Das bildet die Rahmenhandlung des Romans, in die viele weitere Geschichten eingebettet sind.

Ein verschachtelter Aufbau, aber wie ich finde, gut geschrieben. Die durchgängige indirekte Rede stört nicht, sondern lässt nie vergessen, dass wir es hier mit einem subjektiven Bericht zu tun haben. 

Schon auf den ersten Seiten klingt eine Untergangsstimmung an: Die gegenwärtigen Verhältnisse sind „schlecht, ja tödlich“, „wenn alles so rasant auf sein unwiderrufliches Ende zuschlittere, erübrige sich der sinnhafte Text“ (S.10). In einem Interview spricht Elmiger von „existentieller Verlassenheit“ und „Grundlosigkeit unseres Daseins“, Damit wird ein existenzialistischer Ton angeschlagen, der den gesamten Roman grundiert.

Durch unzählige Adjektive erzeugt der Text eine trostlose Atmosphäre: düster, unruhig, dunkel, neblig, verhangen, unerträglich, verlassen, schmutzig, drückend, unheilvoll, fürchterlich usw.. Und die eingebetteten Geschichten berichten auch vom Scheitern. Wer positive Ansätze erwartet oder eine Lösung sucht, den wird der Text enttäuschen. Der Autorin wird im Urwald bewusst, „dass es hier keine Pointe geben, das die ganze Geschichte auf keine Auflösung, kein gutes Ende zu laufen würde.“ (S. 127). Nur in den letzten Sätzen des Romans öffnet sich plötzlich ein Portal, ein Spalt, sozusagen ein Hoffnungsschimmer. Diese abstrakte und inhaltsleere Andeutung ist für mich ein eher peinlicher Schluss, nachdem der Zustand der Welt und der Menschheit als apokaplyptisch beschrieben wurden.

Was den Lesefluss stört, ist das andauernde Name dropping, das nur geisteswissenschaftlich Versierte verstehen können. Horkheimer/Adorno haben die Autorin mit ihrer Dialektik der Aufklärung beeindruckt, nach der Wissen und Fortschritt in die Beherrschung der Natur (auch der Emotionen ins uns) umschlagen. Angeführt werden Ideen von Walter Benjamin, Siegfried Krakauer, Maurice Merleau-Ponty, Jacques Lacan, Didier Eribon. Als Literaten werden Ingeborg Bachmann, Robert Walser, Thomas Bernhard angeführt, manche Andeutungen muss man auch erschließen wie z.B. zu Peter Handke. Man bekommt den Eindruck, dass die Autorin beweisen möchte, wie belesen sie ist, statt ihre Botschaft in Erzählungen zu verpacken, was sie eigentlich gut kann. So wird die Lektüre zur intellektuellen Herausforderung. 

Kritiker und Kritikerinnen haben den Roman sehr unterschiedlich besprochen. Die Bewertung des Textes ist sehr davon abhängig ist, ob man seine philosophischen Prämissen teilt. (03.12.2024)

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München: Carl Hanser, 2025, 158 Seiten.

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Happy Hirn

Das ist der etwas einfältigeTitel eines Buches des Neuropsychologen Ben Rein an der Stanford University. Er vertritt eine These, der wohl niemand ernsthaft widersprechen wird: In der Evolution haben wir nur in Gruppen überlebt, deshalb sind Interaktion und Empathie zentrale Bereiche unserer Existenz. Empathie als die Fähigkeit, die Gefühle unserer Mitmenschen zu verstehen, und Interaktion der gemeinsame Kontakt bei Bewältigung zahlreicher Probleme. Dr. Rein diagnostiziert eine zunehmende soziale Diät, da in vielen Bereichen die Interaktion mit Menschen abnimmt: Wir holen unser Geld vom Automaten, nicht mehr vom Bankschalter, wir reden nicht mehr mit dem Briefträger, wir arbeiten zuhause im Home Office und in Videokonferenzen statt unter Kollegen und Kolleginnen, wir beschäftigen uns im Bus mit dem Smartphone, statt ein Gespräch zu beginnen, wir kaufen online ein, statt an der Kasse zu plaudern usw. Die derzeit überall beklagte Einsamkeit hat hier eine Wurzel in der Abnahme direkter sozialer Kontakte. Das beeinträchtigt auch unsere Empathiefähigkeit. Unser Gehirn ist nur happy, wenn es mit anderen Gehirnen im direkten Austausch steht. So erstaunlich und sensationell, wie Dr. Ben Rein diese Erkenntnisse anpreist, sind sie wahrlich nicht. (01.12.2025)

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Überklebt

Politischer Überkleber, der in Tübingen verbreitet ist. Zum Vergrößern ins Bild klicken. Foto: St.-P. Ballstaedt (07.11.2025)

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Parfumverbot

An einen Besuch an der Wiener Staatsoper werde ich mich immer erinnern, gespielt wurde „Lucia di Lammermoor“ (wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht). Links neben mir sass eine junge Frau, die sich mit einem blumigen Parfum eingesprüht hatte. Rechts neben mir eine ältere Dame, die ein schweres Moschus-Parfum benutzte. In der Mitte sass ich eingenebelt und mit leichten Kopfschmerzen. 

Jetzt haben einige Spitzenköche die Nase voll und wollen starke Parfums in ihren Restaurants verbieten, was sowohl Frauen wie Männer betrifft. Starke Düfte konkurrieren mit dem Geschmack der Speisen und Getränke, denn beide werden vor allem durch die Nase wahrgenommen. Ein Gourmet wird deshalb auf starke Gerüche verzichten, andere Gäste sollen verduften.

Warum dieser massive Gebrauch von Düften? Früher hat man Körper- und Mundgerüche mit Duftstoffen und Veilchenpastillen überdeckt. Diese Funktion dürfte heute wegfallen, das Parfum soll die Individualität unterstreichen und eine erotische Verlockung darstellen, es sollte eigentlich nur auf Nahdistanz wirken: ein Tropfen hinters Ohr oder ins Dekolletee. Aber heute sind selbst Schulmädchen im Bus so eingedieselt, dass man die Klassenzimmer wohl oft lüften muss. Ein Parfum kommuniziert zudem den Status, denn manche edlen Düften riechen ausgesprochen teuer. (29.10.2025)

Der Berliner Gastronom The Duc Ngo wehrt sich gegen starke Gerüche seiner Gäste.

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Dunkle Gefühle

Im allgemeinen christlichen Schuldbekenntnis bekennt der/die Gläubige: „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld.“ Psychologisch ist das ein strenge Moral, denn für unsere Taten sind wir verantwortlich, aber nicht für unsere Träume, Fantasien und Gefühle, in denen sich primitive, archaische Relikte aus der animalischen Evolution melden. Hass, Wut, Aggression, Neid, Hochmut, Rachsucht, Eifersucht, Schadenfreude, Habgier, das ist eine Liste von Gefühlen, die man sich ungern eingesteht. Aber jeder hat schon einmal Gefühle, Gedanken und Vorstellungen bei sich beobachtet, die ihn selbst erschrecken und für die er sich schämt. Eine Weigerung, diese dunklen Seiten der Psyche anzuerkennen, sie zu verleugnen oder zu verdrängen, bringt uns um wichtige Selbsterkenntnisse.

Kultur und Gesellschaft fordern und kontrollieren eine Disziplinierung der dunklen Gefühle. So hat die „klammheimliche Freude“ des Göttinger Mescalero nach der Ermordung des Generalbundesstaatsanwalts Buback große Empörung ausgelöst. Fällt die soziale Kontrolle weg, wie in den sozialen Medien, dann brechen sie sich ungehemmt Bahn. Im zwischenmenschlichen und politischen Bereich werden dunkle Gefühle durchaus bewusst taktisch gepflegt, um angestrebte Ziele zu erreichen. Sonst wäre ein strenges Schuldbekenntnis auch überflüssig.

Noch ein Tipp: Der belgische Comiczeichner André Franquin hat einige Bände „Schwarze Gedanken“ herausgegeben, in denen er seinen dunklen Gefühlen freien Lauf lässt. Sehr böse! Leider darf ich kein Bildbeispiel zeigen. (13.10.2025)

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Verwurstet und geschnetzelt

Das Europaparlament hat entschieden, dass Fleischersatzprodukte nicht mehr Wurst, Schnitzel oder Burger heißen sollen. Also keine Veggiewurst und vegane Schnitzel mehr im Regal, da die Bezeichnungen den Konsumenten angeblich verwirren und zu Verwechslungen führen. Unabhängig davon, ob die Benennung dem Verbraucherschutz wirklich dient, etymologisch macht es wenig Sinn, Wurst und Schnitzel für Fleischprodukte zu reservieren.

Ein Schnitz ist ursprünglich ein kleines abgetrenntes Stück, aus dem Verb „schnitzen“ rückgebildet. Der Schnitzel ist ein kleines Stück Papier, erst spät Mitte des 19. Jh. wird es als Neutrum für eine Fleischschnitte verwendet: Das Schnitzel hat also ursprünglich nichts mit Fleisch zu tun.

Die Wurst hat eine ungewisse Herkunft, aber auch diese ist sicher fleischlos: Das Wort gibt es nur im Deutschen und es bedeutet ursprünglich Drehen oder Vermengen, die Bedeutung ist noch erkennbar in den Verben „sich durchwursteln“ oder „verwursten“

Nur der Burger als Verkürzung von Hamburger ist von Anfang an ein Hacksteak aus Rindfleisch auf einem Brötchen. Es wird inzwischen auch als vegetarische Variante angeboten.

Noch müssen die 27 EU-Staaten der Sprachregelung zustimmen, dann finden sie vielleicht die Zeit, sich ernsten Problemen des Bündnisses zuzuwenden. (09.10.2025)

Raffiniert getarnt: ein Sellerieschnitzel. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Doppelt

Ein Piktogramm und ein Text, beide mit derselben Botschaft. Ist das Bild oder der Text als Warnung verständlicher? Ich vermute, dass der Text schneller verstanden wird als das Bild, das man erst absuchen muss. Aber das Bild kann als Blickfang dienen. Die Text-Bild-Kombination befindet sich am Großbahnhof am Ostseebad Binz auf Rügen (30.09.2025)

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Four letter

Manchmal beept es im Radio, wenn ein amerikanischer Song gespielt wird, oder im Text erklingt ein Triangel-Bing. Das ist eine Zensur, die uns vor schmutzigen Wörtern (dirty words) schützen soll. Die Verwendung einiger Wörter war bis zu einem Gerichtsurteil von 2010 verboten. Der Komiker George Carlin hat darüber 1973 eine Sketch aufgeführt: „Seven Words you can never say on television“. Seine Liste: shit, piss, fuck, cunt, tits und die Komposita cocksucker und motherfucker. Da die Stammwörter alle aus vier Buchstaben bestehen, wurden sie auch Four-letter words genannt. Diese Wörter und etliche Flüche sind auch heute noch Einschränkungen und Kontrollen unterworfen.

Die deutsche Redewendung „Setz dich auf deine vier Buchstaben“ wäre im Englischen verständlich: (arse, butt), aber im Deutschen kommt nur das harmlose Popo infrage, das allerdings eine interessante Etymologie hat. „Pedere“ ist das lateinische Verb für furzen, Podex ist eine Substantivbildung dazu und bedeutet eigentlich „Furzer“, dann „Hintern“. Die kindersprachliche Silbenverdopplung wird im Deutschen zu Popo (analog Papa, Mama, Pippi, Kaka). (14.08.2025)

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Genozid

Der Gebrauch von Wörtern hat Konsequenzen. Das zeigt die Debatte, ob man das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza als Genozid bezeichnen kann, als bewusstes politisches Ziel oder als Kollateralschaden bei der Bekämpfung der Hamas. Genozid ist ein im Völkerrecht definierter juristischer Begriff in der UN-Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermords, die 1951 in Kraft trat.

Die Konvention definiert Völkermord als „eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) das Töten von Angehörigen der Gruppe,

b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe,

c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen,

d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung,

e) die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“

Diese Kriterien kann jeder auf die Situation in Gaza anwenden und zu einer Entscheidung kommen. Der Internationale Gerichtshof behandelt derzeit dieses Problem, aber ein Urteil wird noch eine Weile auf sich warten lassen.

Würde der Begriff „Genozid“ für das Verhalten Israels als korrekt anerkannt, hätte das erhebliche politische Konsequenzen, denn das Völkerrecht sieht darin ein Verbrechen, das Strafen nach sich ziehen muss. Die Unterzeichnerstaaten müssten eingreifen, Deutschland dürfte keine Waffen mehr liefern, Mitglieder der israelischen Regierung müssten außerhalb des Landes festgenommen werden usw. 

Damit ist verständlich, warum der Begriff „Genozid“ von Politikern gemieden und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gesprochen wird. Das klingt nach harten moralischen Verurteilungen, hat aber politisch zunächst keine Konsequenzen. (08.08.2025)

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Comics

In meiner Kindheit und Jugend waren Comics in bürgerlichen Kreisen verpönt, man sollte gute Bücher lesen und keine Bildchen anschauen. Die Bildergeschichten wurden als Schund eingestuft, die nichts zur geistigen Entwicklung beitragen. Was die banalen Geschichten betrifft, wurde man sicher nicht sonderlich gefördert, aber das Verstehen von Comics ist eine durchaus anspruchsvolle kognitive Aufgabe: 1. Bilder und Worte, zwei unterschiedliche Zeichensysteme, müssen integrativ verarbeitet werden, im anspruchsvollsten Fall sind sie komplementär angelegt, sie ergänzen sich zu einer Gesamtbotschaft. 2. Die Lücken zwischen den Bildern müssen mental gefüllt bzw. erschlossen werden, dazu muss man Wissen aktivieren. Bilderserien, die in eine korrekte Reihenfolge gebracht werden sollen, sind als Aufgaben in Intelligenztests gebräuchlich. Moderne Graphic Novels können narrativ, bildlich und sprachlich ein hohes Niveau erreichen. (06.08.2025)

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