Ihrzen, Erzen, Siezen, Duzen

Ein Bereich, auf dem sich sprachliche Veränderungen vollziehen ist die pronominale Anredeform im Deutschen. Sie hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder geänderte (dazu ein Wikipedia-Artikel). Im 12. Jahrhundert wurde in Anlehnung an das Französische in höheren Kreisen geihrzt: „Habt Ihr den Brief erhalten, gnädiger Herr?“ Neben Duzen und Siezen gab es im 17. Und 18. Jahrhundert auch das Erzen, die Anrede mit Er bei Untergebenen und Standesniederen: „Hat er denn keinen Mumm in den Knochen!“

Im 20. Jahrhundert war es im deutschen Sprachraum üblich, nur Familienangehörige, Verwandte und enge Freunde zu duzen. Mit der 68er-Bewegung wurde das Duzen unter Studiereden und auch mit progressiven Dozenten üblich. Ich habe mich mit den Studierenden grundsätzlich gesiezt. Ein Kollege sprach die Studierenden mit Vornamen und Du an, wollte aber selbst mit Sie angesprochen werden, eine demonstrative sprachliche Distinktion. Mir wäre es unmöglich vorgekommen, einen Studenten in der Prüfung zu duzen und ihm dann mitzuteilen: „Karl, du bist leider in der Klausur durchgefallen.“ Mit dem Du wird eine vorhandene soziale Asymmetrie verschleiert.

Derzeit lässt sich beobachten, dass das Siezen auf vielen Feldern abgeschafft wird. Z.B. werden wir in der Werbung oft mit Du angesprochen: „Diese Zeit gehört dir“ (Deutsche Bahn) oder „Entdecke wie verlockend Ordnung sein kann“ (Ikea). Mein Weinhändler schreibt zu einem Prospekt: „Anbei schicke ich euch die aktuelle Weinkarte.“ Ich empfinde das als anbiedernd und aufdringlich. In Social Media wird fast durchgängig geduzt, Xing präsentiert „Deine Woche, kurz zusammengefasst“.

In der Schweiz geht man mit dem Du freier um. An Hochschulen duzen sich auch die Dozenten und Assistenten. In Schweizer Firmen wurde ich bei der Anmeldung gleich darauf hingewiesen, dass sich alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen duzen, wenn ich das nicht wolle, solle ich das angeben. Da ich kein Außenseiter sein wollte, stimmte ich zu: „Ich bin der Steffen“, was mir aber immer befremdlich vorkam. In etlichen Firmen und Konzernen mit angelsächsischen Normen ist heute das Du üblich, um Gemeinschaft und Solidarität zu demonstrieren.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat das spontane und ungefragte Duzen in vielen Kommunikationssituationen zugenommen, Vorbilder sind die englische und nordeuropäische Sprachen. Meine Ansicht: Das Du ist eine sprachliche Form, Abstand zu halten, das Anbieten des Du ist ein sozialer Akt der Wertschätzung, den ich nicht missen möchte. (27.11.2021)

One Response to Ihrzen, Erzen, Siezen, Duzen

  1. Wolfgang Scherer 12. Dezember 2021 at 10:37 #

    Es gibt (oder gab, zumindest in den 50ern des letzten Jahrhunderts) noch eine schicht-/klassenspezifische Ausprägung: Unter den Arbeitern duzte man sich, Angestellte und Beamte siezten.
    Dazu noch eine kleine Episode: Bei der Städtischen Straßenbahn in Freiburg gab es neben den Fahrern, Schaffnern, Mechanikern, Kontrolleuren und den Verwaltungsangestellten auch die sogenannten Streckenarbeiter, also jene, die für den Zustand der Schienen zuständig waren. Ein Mitarbeiter der Strecke hatte den Spitznamen „Siesiedu“, weil er im Gespräch mit den Höhergestellten, wozu im Zweifelsfall bereits die Fahrer gehörten, ständig zwischen „Du“ und „Sie“ wechselte.

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