Digitales Ich

GOOGLE hat es sich etwas kosten lassen und der letzten Ausgabe des SPIEGEL ein Heft beigelegt. Ausgangsthese: Wir hinterlassen durch alle Handlungen im Web wie Navigieren, Recherchieren, Buchen, Reservieren, Einkaufen, Kommunizieren, Streamen, Spielen, Bezahlen unsere Spuren, die zusammengefasst ein „digitales Ich“ oder eine „elektronische Identität“ bilden. Lassen wir einmal die Frage ausgeklammert, ob es so etwas wie ein Ich und eine Identität überhaupt gibt, sicher ist, dass unsere Hinterlassenschaften im Web etwas über uns aussagen, über Interessen, Bedürfnisse, Motive.

So wie wir ein soziales Ich in den Beziehungen mit anderen aufbauen, erhalten und verändern, so trägt auch digitale Kommunikation wie Mailen, Chatten, Bloggen, Fototausch zu unserem Ichgefühl bei. Hier sehe ich kein Problem. Etwas anders sind die Daten, die wir bei Netflix, Amazon, Facebook, Twitter, Google usw. ohne kommunikative Absicht hinterlassen. So lernt Netflix lernt mit jeder Serie, die wir anschauen oder auch nur den Trailer anklicken, mehr über unsere Vorlieben, ein Algorithmus berechnet daraus Empfehlungen und er ist lernfähig: Wer länger keine Erotikfilme mehr angeschaut hat, aber dafür Tierfilme, der bekommt zunehmend Tierfilme angeboten. (Kann man aus dieser Veränderung aber erschließen, dass sich seine erotische Bedürfnisse verändert haben?)

Was mich ärgert: Philosophische Konzepte wie „Ich“ und „Identität“ werden benutzt, um profitorientierte kommerzielle Interessen zu bemänteln. Diese Firmen interessieren sich nicht für Philosophie, sondern verdienen mit unseren Profilen bzw. errechneten Identitäten Geld. Sandra Matz, Assistant Professor of Management an der Columbia Business School in New beschäftigt sich als  Computational Scientist mit Psychografischem Profiling: Wie lassen sich aus den Daten im Web Nutzerprofile für das Marketing erstellen. Aus den Likes bei Facebook werden z.B. introvertierte und extrovertierte Nutzer ermittelt, die dann personalisierte Werbung bekommen. Ihr Resümee: „Ich denke, die Menschen müssen begreifen, was Daten Positives herbeiführen und wie sehr wir alle durch die Analyse von Daten profitieren“

Die Beilage versucht, die Vorteile der Datenerhebung und -zusammenführung zu preisen und gleichzeitig die Privatsphäre zu schützen. GOOGLE stellt sein Safety Engeneering Center (GSEC) in München vor. Dort wirkt ein Privatsphäre-Team, das Datenschutz- und Sicherheitsprodukte entwickelt. Merkwürdig: Ein firmeneigene Abteilung, die gegen das eigene Geschäftsmodell arbeitet? (16.03.2020)

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Lektüre zur Debattenkultur

Bernhard Pörksen/ Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. München: Carl Hanser. 20,00 €, ISBN 978-3-446-26590-5

Der Tübinger Medienwissenschaftler und der Hamburger Kommunikationspsychologie diskutieren gern miteinander, es ist schon ihr zweites in Dialogform veröffentlichtes Buch. (Lektüre zur Kommunikation). Die Gespräche wurden mündlich face-to-face geführt, aber – wie Schulz von Thun im Nachwort gesteht – enorm überarbeitet. Die inhaltlichen Anschlüsse sind elegant, dem Gegenüber fällt immer etwas Weiterführendes oder das passende Beispiel ein, sie spielen sich die Bälle, sprich Stichworte geschickt zu.

Das Buch geht von einer „Gefährdung von Gespräch und Diskurs“ in unserer Gesellschaft aus, einer gefährlichen „Diskursverwilderung“. Aber „die Art und Weise des Sprechens und Streitens ist der entscheidende Gradmesser demokratischer Vitalität“ (S. 40). In den Gesprächen werden Problemzonen der gesellschaftlichen Kommunikation behandelt: Talkshow-Debatten, Skandalisierung, Desinformation und Fake News, Krise des Journalismus, Hassattacken in den sozialen Netzwerken, Verschwörungstheorien, Umgang mit der neuen Rechten usw. Fokus bleibt aber das konstruktive Miteinanderreden und Streiten. Die Autoren umkreisen ihr Kernthema in zahlreichen Wiederholungen. Pörksen spielt dabei die Rolle des Stichwortgeber und Draufgängers, er stellt Thesen auf und spitzt sie manchmal zu, Schulz von Thun gibt den Friedemann, der die Spitze als versierter Mediator wieder abschleift, immer weise abwägend, einschränkend, ausgleichend.

Was arbeiten die beiden an Empfehlungen für eine gelungenes Gespräch heraus? Hier nur Stichworte: Dem Gegenüber muss ein Minimum an Wertschätzung und Respekt entgegengebracht werden, statt Abwertung und Diffamierung. Ein Mindestmaß an Empathie und eine Anstrengung des Verstehens (nicht des Einverständnisses) ist auf beiden Seiten erforderlich. Der Streit muss um die Sache gehen ohne die Person herabzusetzen (Prinzip der respektvollen Ablehnung, S. 88), z.B. durch „rückwirkende Generalisierungen“ mit Aussagen wie: „Sie haben ja schon immer…..“. Überprüfbare Beschreibungen und subjektive Bewertungen müssen getrennt werden. Man soll die Stärken der Argumentation des anderen anerkennen und die eigenen Schwachpunkte  einzugestehen. (Souveränität höherer Ordnung, S. 142). Grundsätzlich soll man davon ausgehen, dass auch ein ungeliebter Gesprächspartner nicht in allem unrecht hat. Und schließlich hilft hin und wieder Humor als Mittel  der Depolarisierung und Entkrampfung (S. 80). Das Gespräch wird als „dialektisches Wechselspiel von Akzeptanz und Konfrontation“ aufgefasst.

Kein Zweifel: Das sind nützliche Prinzipien und Empfehlungen, denen wohl niemand widersprechen wird, aber warum werden sie oft nicht eingehalten? Meine Vermutung: Die beiden Akademiker unterschätzen die Macht der Gefühle. Frustrationen, narzisstische Kränkungen, Macht- und Ohnmachtsgefühle, Ängste, Unsicherheit, Sorgen, all das bestimmt die menschliche Kommunikation mit. „Der Mensch ist ein Gefühlswesen“, stellt der Psychologe zwar fest, aber er verlangt eine rationalen Kraftakt, wenn er kommunikative Kompetenz so beschreibt: „Stimmige Kommunikation ist authentisch und wirkungsbedacht zugleich, ist darauf aus, die eigene innere Wahrheit zu offenbaren und ebenso der Situation gerecht zu werden, die in ihren Besonderheiten und ihren inhärenten Herausforderungen erkannt sein will“ (S. 209). Oder anders formuliert: „Stimmig ist eine Verlautbarung dann, wenn sie erstens auf Wahrheit beruht, zweitens in unaufdringlicher Weise wahrhaftig ist und drittens beziehungsverträglich formuliert ist und zu einer konstruktiven Reaktion einlädt.“ (S. 164). Beim reflektierten Schreiben bekommt man das vielleicht noch hin, aber in der spontanen Alltagskommunikation und in emotional aufgeladenen Debatten? Zumindest ich fühle mich dadurch überfordert.

Die beiden Gesprächspartner sind sich bewusst, dass ihre Empfehlungen für vernünftige Verständigung schwer umzusetzen sind (wie schon die Konversationsmaximen von Grice oder die Geltungsansprüche bei Habermas). Dazu Pörksen: „Was sich vermitteln lässt, sind allenfalls Metarezepte, geistige Rahmenbildungen und gedankliche Werkzeuge, um im möglichst hellen Bewusstsein abzuwägen, was man tun könnte und vielleicht tun sollte““ (S. 165). Und im Nachwort formuliert Schulz von Thun  als Lernziele ein „geschärftes Dilemmabewusstsein“ und einen „Kompass für Stimmigkeit“ (S. 209). (11.03.2020)

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Superzeichen

Aus vielen Einzelzeichen eines Streckenplans wird ein Superzeichen: Ein Saurier auf der Pirsch, der den ganzen Bodensee als Rucksack mitschleppt. Aufgenommen auf dem Bahnhof Schaffhausen. Foto: St.-P. Ballstaedt (07.03.2020)

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Mundschutz

Ein eigenartiges Wort, den man schützt ja nicht den Mund, sondern vor allem den Nachbarn vor einer Ansteckung. In den Apotheken gehen die Atemmasken aus, auch in Tübingen, keinem Brennpunkt der Epidemie. (01.03.2020)

Das Corona-Virus hat auch Sorge bei den Emojis ausgelöst. Quelle: Wikimedia Commons

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Unverblümt

Ein Adjektiv, das ich immer wieder gerne höre, es steht für eine offene Rede ohne Umschweife und Rücksichtnahme. Das Wort ist schon im 17. Jahrhundert im Gebrauch, im Gegensatz zu „blümerant“ hat es tatsächlich etwas mit Blumen zu tun. Nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm gab es einmal ein Verb „verblümen“ in der Bedeutung „mit Blumen schmücken“ („thal und felder schön verblümet“). Später dann in übertragener Bedeutung „mit blumigem Beiwerk, mit verblümten Worten aussprechen“.

Das Antonym zu „unverblümt“, also „verblümt“ ist ungebräuchlich, es gibt aber eine bedeutungsanaloge Sprechblase im Comic. Dort wird sprachliches Süßholzgeraspel oder sprachliche Ironie mit Blümchen umrahmt. (25.02.2020).

Ein Sprechblase aus „Astérix en Hispanie“ (1969). Der Römer will sich beim gallischen Türwächter einschmeicheln und spricht verblümt. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Gefahrgut

Vor ein paar Tagen bekam ich ein Paket mit einem großen auffälligen Aufkleber, den ich bisher nicht kannte, aber seine Bedeutung erschließen konnte: Es soll vor explodierenden Batterien gewarnt werden. Meine Recherche bestätigte die Bedeutung der UN-Nummer 3481: Lithium-Ionen-Batterien in Ausrüstungen oder Lithium-Ionen-Batterien, mit Ausrüstungen verpackt (einschließlich Lithium-Ionen-Polymer-Batterien)

Für den Transport gefährlicher Güter werden von den Vereinten Nationen durch einen Sachverständigenausschuss beim Wirtschafts- und Sozialrat globale Sicherheitsstandards erarbeitet. Diese Vorschriften liegen aktuell in ihrer 17. Fassung 2011 vor. Dazu gehört diese Piktogramm, dass vor überhitzten oder explodierenden Akkus in mobilen Geräten warnt.

Wie oft sich Akkus überhitzteen und explodiert, das weiß ich nicht, auf dem Bild sind vier intakte Batterien abgebildet. Aber ich frage mich, warum man sich nicht an den üblichen Gefahrgut-Kennzeichen orientiert hat: den auf der Spitze stehenden Quadraten. (23.02.2020)

Ein neues Piktogramm, daneben das UN-Kennzeichen Gefahrgutklasse 1 für Explosivstoffe und Gegenstände, die Explosivstoffe enthalten. Quelle: eigenes Foto und Wikimedia Commons.

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Kuckuckskinder

Ein besonders pikante Erscheinung menschlicher Intimkommunikation ist das Kuckuckskind, ein Kind, das eine Frau zur Welt bringt, aber das nicht ihr Ehemann oder Lebenspartner gezeugt hat. Das Wort „Kuckuckskind“ für diese Kinder klingt abwertend, sowohl für die Kinder wie auch für die Mutter, da ihr eine absichtliche Unterschiebung unterstellt wird. Es beleidigt sogar den Kuckuck, denn sein Verhalten ist genetisch festgelegt, ein Seitensprung der Frau aber nicht. Das neutrale Fachwort lautet Scheinvaterschaft oder Vaterschaftsdiskrepanz.

Wie oft kommen  derartige Kinder vor? Bei einer Metaanalyse über 67 Studien hinweg liegt die Rate der betroffenen Väter um die 2%, die Zahlen schwanken je nach Land: in Mexiko etwa 12%, in der Schweiz 0,8%, für Deutschland wurde in DER ZEIT 2018 einmal die Zahl von 7% verbreitet. Das beliebte Gesellschaftsspiel, beim Baby watching sofort Züge des Vaters oder Großvaters zu erkennen, sozusagen als Indiz für die Vaterschaft, ist ein psychologischer Niederschlag der Angst vor einer Scheinvaterschaft.

Durch DNA-Analyse ist die Vaterschaft heute eindeutig nachweisbar. Manchmal will auch die Mutter wissen, wer jetzt eigentlich der Vater ihres Kindes eigentlich ist. Die Rechtslage: Ein zweifelnder Vater kann von der Mutter des Kindes Auskunft über den genetischen Vater verlangen. Er kann mit mütterlicher Einwilligung den mutmaßlich genetischen Vater zur Vaterschaftsfeststellung zwingen und gezahlten Unterhalt von diesem einklagen. Psychisch ist es für die meisten Männer eine Ungewissheit schwer erträglich, aber noch schwieriger die Gewissheit. Gefühle von Betrug, Verrat, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Hass vermischen sich. Es gibt eine Website für Scheinväter und Kuckuckskinder. In dem Drama „Die Wildente“ von Ibsen geht es um eine Scheinvaterschaft, deren Aufdeckung als „Lebenslüge“ in einer bisher funktionierenden Familie in die Katastrophe führt. Das Kuckuckskind Hedvig wird verstoßen, als der Scheinvater erfährt, dass sie nicht seine Tochter ist, und sie bringt sich um. (20.02.2020)

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Pale Blue Dot

Heute in jeder Zeitung: Ein Abdruck eines Fotos, das heute den 30. Geburtstag feiert, es wurde am 14.2.1990 von der Raumsonde Voyager 1 aufgenommen, ein Abschiedsbild von der Erde aus einer Entfernung von 6 Milliarden Kilometer, bevor die Sonde an den Rand unserer Sonnensystems entschwindet. Den US-Astronomen Carl Sagan hat das Bild zu einem Buch inspiriert: „Blauer Punkt im All“. Inzwischen ist Voyager 1 über 22 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, aber sie sendet noch Daten!

Das Foto ist bei naiver Wahrnehmung wenig spektakulär, einzig interessant die Streifen, aber das sind fotografische Artefakte. Das Pünktchen sieht man erst bei sehr genauer Inspektion. Eine „eine atemberaubende Botschaft“ (FR vom 14.2.2020) wird erst durch Vorwissen daraus: Unsere Erde als unscheinbares Staubkorn im Universum, die Menschen darauf als einsame Bewohner. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass ein Bild nicht selbstverständlich ist, sondern erhebliche Voraussetzungen zum Verstehen hat. Das gilt für alle wissenschaftlichen Fotos: Man sieht nur, was man weiß. (14.02.2020)

Suchbild (zum Vergrößern ins Bild klicken): Welche Pixel bilden die Erde ab? Quelle: Wikimedia Commons

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blümerant

In der Serie „Babylon Berlin“ ist einigen Personen blümerant, d.h. sie fühlen sich unwohl, flau, übel. Das schöne Adjektiv steht zwar noch im Duden, aber im aktiven Wortschatz ist es kaum noch zu finden.

Das Wort wurde im 17. Jahrhundert im 30jährigen Krieg aus dem Französischen übernommen: „Bleu mourant“ ist die Farbe „mattblau“ oder „blassblau“, wörtlich „sterbendes Blau“. Das Wort sollte als „sterbeblau“ verdeutscht werden, setzte sich aber gegenüber dem wohlklingenden „blümerant“ nicht durch. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet man es in der Farbbedeutung unter dem Buchstaben P: ein plümerantes Kleid.

Zu seiner übertragenen nichtfarbigen Bedeutung kommt das Wort erst im 19. Jahrhundert, vermutlich über den bläulichen Teint von Ohnmächtigen, denen vorher unwohl war. (07.02.2020)

Eine Mokka-Tasse mit Bleu-mourant-Dekor. Foto: Christoph Kaiser, flickr.com.

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