Verzehrsempfehlung

Auf eine Schachtel mit Magnesium-Kapseln steht eine Verzehrsempfehlung. Ist das Fugen-s korrekt? Fugenlaute in zusammengesetzten Wörtern sind für Linguisten ein zweifaches Ärgernis.

1. Man weiß nicht, wo sie genau herkommen. Sind es übriggebliebene Flexionsmorpheme (Fuseme), z.B. des Genitivs (Museumsdirektor, Essensreste) oder des Plurals (Hundeleine, Streckenposten). Aber es gibt es für Hochzeit kein Genitiv-s, aber ein Hochzeitskleid. Und Kindergeld bekommt man auch für ein Einzelkind. Oder haben sie sich Fugenlaute nur eingeschlichen, weil man das Kompositum dann glatter artikulieren kann?

2. Wann ein Fugenlaut notwendig ist, dazu gibt es keine eindeutigen Regeln. Und wenn man welche aufstellt, führt das zu vielen Ausnahmen. Kurios: Das Fugen-s ist im amtlichen Sprachgebrauch üblich – Schadensersatz, Einkommenssteuer -, aber nicht unbedingt in der Umgangssprache, da bekommt man Schadenersatz und macht seine Einkommensteuererklärung. Neben der Verzehrsempfehlung gibt es auch die Verzehrempfehlung und den Verzehrzwang, aber nicht den Verzehrszwang. (11.08.2015)

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Korrekt mit oder ohne Fugenlaut? Infanteriewerk A 7838 in Sufers, Kanton Graubünden. Quelle: Kreteglobi, Wikimedia Commons

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Marie Goslich

Es ist faszinierend, wenn ein Mensch und sein Werk der Vergessenheit entrissen werden wie z. B. bei der Fotografin Vivian Maier. Jetzt hat ein studentisches Projektteam des Instituts für Medienwissenschaft der Uni Tübingen die jüdische Journalistin Marie Goslich wiederentdeckt: 1859 in Frankfurt an der Oder geboren, 1937 in eine Landesheilanstalt eingeliefert und dort verschollen. Etwa 400 Fotos haben in Zeitungspapier auf einer Treppe im Hühnerstall überdauert, sonst sind fast alle Dokumente über ihr Leben verschwunden. 70 Fotos haben die Studierenden ausgewählt und im Schönbuchmuseum in Dettenhausen präsentiert. Dazu gib es einen schön schlicht gestalteten Katalog.

Obwohl das Fotografieren mit schwerer Kamera auf einem Stativ umständlich war, wirken die Menschen spontan und lebendig, wenn sie bei Arbeit, Sport und Freizeitvergnügungen abgelichtet werden. Marie Goslich war auch als Mode- und Sportfotografin tätig, aber besonders interessierten sie Menschen der unteren Schichten: Arbeiter, Bauern, Taglöhner, Saisonarbeiter, Hausierer, Straßenhändler, Vagabunden. „Les gagne-petits [Kleinverdiener] nennt sie der Franzose und kennzeichnet damit halb mitleidig, halb verächtlich die geringe Stellung, die sie in der Welt, in der der Mensch nach dem Geldverdienst abgeschätzt wird, einnehmen“. So schreibt sie 1906 in einer Reportage in „Die Woche: moderne illustrierte Zeitschrift“. (10.08.2015)

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Auf der Straße: Ein fahrender Händler mit Haus- und Küchengeräten aus Blech und Eisen. Quelle: Maria Goslich im Schönbuchmuseum

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Verführung

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Ein Beitrag zur Parteienlandschaft in der BRD. Darth Vader (als SPD!) versucht die keusche Linke (mit Nelke) zu verführen. Graffito am Hegelbau in der Keplerstraße in Tübingen. Foto: St.-P. Ballstaedt (08.08.2015)

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Fleuron

Der Mensch hat schon in der Steinzeit Werkzeuge und Gefäße mit einfachen geometrischen Ornamenten verziert, sie sind ein Beleg für frühes ästhetisches Empfinden. Bis heute lassen sich selbst auf alltäglichen Gegenständen Ornamente finden: Welcher Designer hat in die Pressform für Pflanztopfuntersetzer stilisierte Zweige als Relief zur Anhebung des Topfes eingefügt? In der Terminologie der Ornamentik ein Fleuron, eine stilisierte florale Verzierung. (07.08.2015)

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Plastikuntersetzer der Firma Kayser Plastics mit floralem Ornament. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Hornhauthobel

Das ist mein Lieblingswort des Monats August 2015: Ein Kompositum mit wunderschöner Binnenalliteration. Zudem ein im Alter unverzichtbares Werkzeug, das aber schnell sein erstes Morphem verlieren kann und zum Hauthobel wird. Wem das zu riskant ist, der kann Hornhautschälcreme der Marke „Allgäuer Latschenkiefer“ verwenden. Sie verspricht streichelzarte Füße. (05.08.2015)

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Ein Hornhauthobel der Firma Credo aus dem Internet-Seniorenshop. Quelle: Seniorenshop Jürges

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Menschen und Tiere

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Tierschützer sind in Tübingen schon immer sehr aktiv. Graffito im Stadtteil auf dem Sand (zum Vergrößern ins Bild klicken). Foto: St.-P. Ballstaedt (04.08.2015)

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Frontfrauen

Das Wort klingt martialisch, aber der Ursprung ist wohl nicht die Militärsprache. “Le front” ist französisch die Stirn, eine Frontfrau bietet jemandem sozusagen die Stirn. In dieser Bedeutung wird die Musikerin einer Band, die bei Konzerten als Sängerin im Vordergrund auftritt, als Frontfrau bezeichnet. Auch in der Politik wird das Wort gern benutzt, z. B. Deutschlands erste Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Frontfrau, hier wieder mit militärischen Anklang. Im Web findet man die „Frontfrauen, eine Akademie für Frauen in Führungspositionen“.

Es gibt auch den Frontmann, der aber eher Leadsänger genannt wird. Im Militärjargon gibt es das Frontschwein, ein Soldat der an der vordersten Gefechtslinie im Dreck liegt. (03.08.2015)

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Assoziationsnetzwerk zu „Frontfrau“. Dass Gossip als Frontfrau auftaucht, verwundert kaum. Die Pussycat Dolls (mit Frontfrau Nicole Scherzinger) haben im Graphen überlebt. Quelle: Wortschatzportal der Uni Leipzig

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Gesegnet

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Das Highspeed-Netz hat Seinen Segen. Auf einem Internet-Verteilerkasten in Waldhäuser-Ost. Foto: St.-P. Ballstaedt (01.08.2015)

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Lektüre zur Sprachkritik

Hans Jürgen Heringer/Rainer Wimmer (2015): Sprachkritik. Paderborn: Wilhelm Fink

Die ersten Kapitel des Buches sind für alle eine vergnügliche Lektüre, denen schon immer die Sprachkritiker und Sprachpfleger suspekt waren, die meist von hoher Warte gegen Wörter und Formulierungen zu Felde ziehen. Ihr methodisches Rüstzeug ist ein untrügliches Sprachgefühl, oft verbunden mit einem bildungsbürgerlichen Habitus, der auf „schlechten“ Sprachgebrauch, auf „Sprachdummheiten“ und „Sprachverhunzungen“ herabschaut.

Die Autoren machen deutlich, dass populäre Sprachkritiker wie z.B. Bert Schneider oder Bastian Sick sich nicht auf die Linguistik berufen können. Sie gehen von falschen Vorstellungen, von Sprachmythen aus: Die Sprache als Einheit, als Regelsystem, das festlegt, welche Wörter, Sätze und Redeweisen korrekt sind und welche nicht. Sie ignorieren, dass Sprache ständig im Wandel ist, es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus man eine Sprache kritisieren könnte. Häufig wird die Metapher des sprachlichen Verfalls oder Niedergangs bemüht, die aber voraussetzt, dass es einen idealen Zustand der Sprache gegeben habe oder geben könnte.

Die Autoren wollen Sprachkritik linguistisch begründen und in der Kommunikation verankern. Dabei geht es nicht um die Beanstandung einzelne Wörter („Unwörter“ oder Anglizismen) oder Formulierungen (Beamtendeutsch, Wissenschaftssprache), sondern um das Denken und sprachliche Handeln in konkreten mündlichen und schriftlichen Kommunikationssituationen. Nicht eine Vokabel ist per se ist ein „Unwort“, sondern der Sprecher bzw. Schreiber gebraucht einen Ausdruck in unangemessener Weise. So kann ein Sprecher das Wort Zigeuner in abwertender Bedeutung verwenden, er muss es aber nicht, z.B. wenn er ein Zigeunerschnitzel bestellt. Wenn ein Sprecher allerdings weiß, dass Rezipienten das Wort abwertend verstehen, dann sollte er als kooperativer Sprecher auf das Wort verzichten. Es geht letztlich um unsere Kommunikationskultur. Vorbild ist ihnen hier Karl Kraus. Wie er, so finden sie auch bei Journalisten und Politikern die überzeugendsten Beispiele für unreflektierten bis manipulativen Sprachgebrauch. Sprache bildet Wirklichkeit ja nicht ab, sondern konstituiert auch eine Realität.

Ziel ist die Herausbildung einer sprachkritischen Kompetenz, ein reflektierter produktiver wie rezeptiver Sprachgebrauch, der auch in den Lehrplänen verankert und im Unterricht umgesetzt werden muss. Das ist ein Ansatz der Sprachkritik, der sich angenehm von den rechthaberischen und pedantischen Sprachpflegern abhebt. Das Buch ist natürlich eine Reaktion auf die verbreitete Ratgeberliteratur und die beliebten Sprachglossen, sie ist der Versuch der Sprachwissenschaft, dieses Terrain im Sinne einer „linguistischen Aufklärung“ zu besetzen.

Ein Problem wird dabei allerdings nur marginal angesprochen, obwohl es für einen derartigen Ansatz zentral ist. Es geht um Denken und Sprechen konkreter Sprecher oder Schreiber. Aber wie hängen Denken und Sprache zusammen? Produktiv: Drücken sich mentale Strukturen in Wortwahl und Satzkonstruktion aus? Rezeptiv: Kann man vom sprachlichen Ausdruck auf mentale Strukturen schließen? Ein schwieriges und heikles Thema, das auch den Einbezug der Psychologie fordern würde. Der gehen aber die Autoren geradezu paranoid aus dem Wege. Einmal werden empirische Untersuchungen angeführt (Kahneman/Tversky, S. 103), weil sie in die Argumentation passen, aber gleich mit einer Parenthese versehen, dass sie nichts erbracht habe, was Linguisten nicht ohnehin bereits denken (wobei Vermutungen wissenschaftlich ja nur Hypothesen sind, die empirisch überprüft werden müssen).

Ein zentrales Thema der Sprachkritik ist die Verständlichkeit, ihr sind zwei Unterkapitelchen (5.3 und 5.5) gewidmet. Dort lesen wir: „Verständlichkeitskritik läuft erst einmal ins Leere. Wer unverständlich redet, verfehlt sein Ziel. Kommuniziert wird ja, um sich verständlich zu machen“ (S. 99). Ist das so? Es gibt die intendierte Unverständlichkeit, wenn man eigentlich nichts zu sagen hat, etwas verschleiern oder in bewusst in die Irre führen – und dabei Kompetenz und Expertise ausstrahlen möchte. Es ist richtig, dass Verständlichkeit kein einseitiges Merkmal eines Textes ist, sondern Merkmal einer Kommunikation zwischen Absender und Adressat. Aber das Thema wird doch sehr stiefmütterlich behandelt, wenn aus der psychologischen Forschung nur die verstaubte Flesch-Formel zu Messung der Verständlichkeit auf der Basis von Satzlänge und Wortlänge vorgeführt wird. Da ist man in der Sprachpsychologie bzw. Psycholinguistik doch weiter: Aus zahlreichen Experimenten weiß man, welche Wörter oder Satzkonstruktionen mehr kognitive Verarbeitung erfordern und daher in Häufung einen Text schwierig machen, auch wenn die einen Adressaten damit besser umgehen können als die anderen. Zum reflektierten Sprachgebrauch gehört auch, sich bewusst zu sein, welche unnötigen Erschwernisse man einem Rezipienten durch Wortwahl oder Satzkonstruktion abverlangt. Adressatenorientiertes Sprechen und vor allem Schreiben gehört sicher zu der angestrebten Sprachkompetenz.

Insgesamt ein überaus anregendes und notwendiges Buch. Die didaktischen Absichten werden in weiterführenden Aufgaben umgesetzt, diese sind anspruchsvoll, nicht die in Lehrbüchern üblichen Abfrage- oder Grübelaufgaben. Für ein Studienbuch ist es allerdings ein Ärgernis, dass zahlreiche zitierte Autoren im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt sind. (31.07.2015)

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Urlaub

Zu den Small-Talk-Standard-Themen um diese Jahreszeit gehört die Frage, wo man dieses Jahr den Urlaub verbringt. Dazu definitiv: Ich fahre nicht in den Urlaub, sondern ich verreise. Das Wort Urlaub ist etymologisch ursprünglich die Erlaubnis sich zu entfernen, die ein Höherstehender gewährt. Urlaub ist also die zeitweise Aussetzung von abhängiger Arbeit. (30.07.2015)

Stau

Abstand zur Abhängigkeit: der Urlaub. Foto: Wikimedia Commons

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