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Lektüre zur Sprachkritik

Hans Jürgen Heringer/Rainer Wimmer (2015): Sprachkritik. Paderborn: Wilhelm Fink

Die ersten Kapitel des Buches sind für alle eine vergnügliche Lektüre, denen schon immer die Sprachkritiker und Sprachpfleger suspekt waren, die meist von hoher Warte gegen Wörter und Formulierungen zu Felde ziehen. Ihr methodisches Rüstzeug ist ein untrügliches Sprachgefühl, oft verbunden mit einem bildungsbürgerlichen Habitus, der auf „schlechten“ Sprachgebrauch, auf „Sprachdummheiten“ und „Sprachverhunzungen“ herabschaut.

Die Autoren machen deutlich, dass populäre Sprachkritiker wie z.B. Bert Schneider oder Bastian Sick sich nicht auf die Linguistik berufen können. Sie gehen von falschen Vorstellungen, von Sprachmythen aus: Die Sprache als Einheit, als Regelsystem, das festlegt, welche Wörter, Sätze und Redeweisen korrekt sind und welche nicht. Sie ignorieren, dass Sprache ständig im Wandel ist, es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus man eine Sprache kritisieren könnte. Häufig wird die Metapher des sprachlichen Verfalls oder Niedergangs bemüht, die aber voraussetzt, dass es einen idealen Zustand der Sprache gegeben habe oder geben könnte.

Die Autoren wollen Sprachkritik linguistisch begründen und in der Kommunikation verankern. Dabei geht es nicht um die Beanstandung einzelne Wörter („Unwörter“ oder Anglizismen) oder Formulierungen (Beamtendeutsch, Wissenschaftssprache), sondern um das Denken und sprachliche Handeln in konkreten mündlichen und schriftlichen Kommunikationssituationen. Nicht eine Vokabel ist per se ist ein „Unwort“, sondern der Sprecher bzw. Schreiber gebraucht einen Ausdruck in unangemessener Weise. So kann ein Sprecher das Wort Zigeuner in abwertender Bedeutung verwenden, er muss es aber nicht, z.B. wenn er ein Zigeunerschnitzel bestellt. Wenn ein Sprecher allerdings weiß, dass Rezipienten das Wort abwertend verstehen, dann sollte er als kooperativer Sprecher auf das Wort verzichten. Es geht letztlich um unsere Kommunikationskultur. Vorbild ist ihnen hier Karl Kraus. Wie er, so finden sie auch bei Journalisten und Politikern die überzeugendsten Beispiele für unreflektierten bis manipulativen Sprachgebrauch. Sprache bildet Wirklichkeit ja nicht ab, sondern konstituiert auch eine Realität.

Ziel ist die Herausbildung einer sprachkritischen Kompetenz, ein reflektierter produktiver wie rezeptiver Sprachgebrauch, der auch in den Lehrplänen verankert und im Unterricht umgesetzt werden muss. Das ist ein Ansatz der Sprachkritik, der sich angenehm von den rechthaberischen und pedantischen Sprachpflegern abhebt. Das Buch ist natürlich eine Reaktion auf die verbreitete Ratgeberliteratur und die beliebten Sprachglossen, sie ist der Versuch der Sprachwissenschaft, dieses Terrain im Sinne einer „linguistischen Aufklärung“ zu besetzen.

Ein Problem wird dabei allerdings nur marginal angesprochen, obwohl es für einen derartigen Ansatz zentral ist. Es geht um Denken und Sprechen konkreter Sprecher oder Schreiber. Aber wie hängen Denken und Sprache zusammen? Produktiv: Drücken sich mentale Strukturen in Wortwahl und Satzkonstruktion aus? Rezeptiv: Kann man vom sprachlichen Ausdruck auf mentale Strukturen schließen? Ein schwieriges und heikles Thema, das auch den Einbezug der Psychologie fordern würde. Der gehen aber die Autoren geradezu paranoid aus dem Wege. Einmal werden empirische Untersuchungen angeführt (Kahneman/Tversky, S. 103), weil sie in die Argumentation passen, aber gleich mit einer Parenthese versehen, dass sie nichts erbracht habe, was Linguisten nicht ohnehin bereits denken (wobei Vermutungen wissenschaftlich ja nur Hypothesen sind, die empirisch überprüft werden müssen).

Ein zentrales Thema der Sprachkritik ist die Verständlichkeit, ihr sind zwei Unterkapitelchen (5.3 und 5.5) gewidmet. Dort lesen wir: „Verständlichkeitskritik läuft erst einmal ins Leere. Wer unverständlich redet, verfehlt sein Ziel. Kommuniziert wird ja, um sich verständlich zu machen“ (S. 99). Ist das so? Es gibt die intendierte Unverständlichkeit, wenn man eigentlich nichts zu sagen hat, etwas verschleiern oder in bewusst in die Irre führen – und dabei Kompetenz und Expertise ausstrahlen möchte. Es ist richtig, dass Verständlichkeit kein einseitiges Merkmal eines Textes ist, sondern Merkmal einer Kommunikation zwischen Absender und Adressat. Aber das Thema wird doch sehr stiefmütterlich behandelt, wenn aus der psychologischen Forschung nur die verstaubte Flesch-Formel zu Messung der Verständlichkeit auf der Basis von Satzlänge und Wortlänge vorgeführt wird. Da ist man in der Sprachpsychologie bzw. Psycholinguistik doch weiter: Aus zahlreichen Experimenten weiß man, welche Wörter oder Satzkonstruktionen mehr kognitive Verarbeitung erfordern und daher in Häufung einen Text schwierig machen, auch wenn die einen Adressaten damit besser umgehen können als die anderen. Zum reflektierten Sprachgebrauch gehört auch, sich bewusst zu sein, welche unnötigen Erschwernisse man einem Rezipienten durch Wortwahl oder Satzkonstruktion abverlangt. Adressatenorientiertes Sprechen und vor allem Schreiben gehört sicher zu der angestrebten Sprachkompetenz.

Insgesamt ein überaus anregendes und notwendiges Buch. Die didaktischen Absichten werden in weiterführenden Aufgaben umgesetzt, diese sind anspruchsvoll, nicht die in Lehrbüchern üblichen Abfrage- oder Grübelaufgaben. Für ein Studienbuch ist es allerdings ein Ärgernis, dass zahlreiche zitierte Autoren im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt sind. (31.07.2015)

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Urlaub

Zu den Small-Talk-Standard-Themen um diese Jahreszeit gehört die Frage, wo man dieses Jahr den Urlaub verbringt. Dazu definitiv: Ich fahre nicht in den Urlaub, sondern ich verreise. Das Wort Urlaub ist etymologisch ursprünglich die Erlaubnis sich zu entfernen, die ein Höherstehender gewährt. Urlaub ist also die zeitweise Aussetzung von abhängiger Arbeit. (30.07.2015)

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Abstand zur Abhängigkeit: der Urlaub. Foto: Wikimedia Commons

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Zungensünden

Im 13. Jahrhundert waren Verfehlungen der Zunge ein verbreitetes Thema. Gedacht war dabei weder an Völlerei noch an Cunni- und Anilingus, sondern einen unmoralischen meist unchristlichen Sprachgebrauch. Dabei wird Bezug genommen auf das achte Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen nächsten“. Aber ausgehend von moraltheologischen Auslegungen hat man eine allgemeine Ethik der alltagssprachlichen Kommunikation im Sinn. Zu den Zungensünden gehörten: Gott lästern, Fluchen, Lügen, falsch Schwören, Verleumden, Verhöhnen, Spotten, Beleidigen, aber auch Streiten, Schwatzen, Schmeicheln, andauerndes Klagen, eitles Reden, Scherzen auf Kosten anderer. 24 Zungensünden hat der Dominikanermönch Guilelmus Peraldus aufgelistet. Die Bezähmung der Zunge dürfte ein aussichtloses Unterfangen darstellen.

Es gab viele Strafandrohungen für Sünden der Zunge. Beliebt war das Steinetragen, mit dem vor allem an Frauen für Schelten, Fluchen, Gott Lästern – aber auch Trinken (!) – bestraft wurden. Schandmäuler mussten öffentlich einen Laststein eine Strecke lang um den Hals schleppen. Drakonische Strafen wie das Herausschneiden oder wenigstens Perforieren oder Annageln der Zunge wurden offenbar selten vollstreckt. Zu Zungensünden sehr lesenswert: Bettina Lindner: Bestraftes Sprechen: Zur historischen Pragmatik des Mittelalters. Verlag Wilhelm Fink, 2008. (27.07.2015)

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Perforierte, aber nicht bezähmte Zunge. Foto: Wikimedia Commons

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Mad Scientists

Im Comic werden Professoren meist mit überdimensionalem Eierkopf, Haarkranz und Bart dargestellt, z. B. Prof. Tryphon Tournesol in Tintin. Oft dienen Einstein oder Freud als Modelle für den typischen, oft verrückten Wissenschaftler. (24.07.2015)

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Comic-Prof mit Schablone an eine Brücke in Gelsenkirchen gesprüht. Foto: St.-P. Ballstaedt. Verrückter Prof aus einer Malvorlage. Quelle: http://www.gratis-malvorlagen.de/comics/verrueckter-professor/

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Protest

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Man behaupte nicht, dass im Schwäbischen nicht protestiert wird. Neue Inschrift am Nonnenhaus in Tübingen. Foto: St.-P. Ballstaedt (22.07.2015)

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Digital Art

Unter dem Titel „Künstliche Kunst“ hat Joachim Wedekind in der Tübinger VHS eine kleine Ausstellung mit Grafiken zusammengestellt, die eine Hommage an die Pioniere der Computerkunst darstellt. 1965, genau vor 50 Jahren, fand an der Universität Stuttgart die weltweit erste Ausstellung zur Computerkunst statt. Theoretischer Hintergrund ist die Informationsästhetik von Max Bense, konkrete Beispiele liefern die Grafiken der großen 3N – Nake, Nees und Noll. Da die originalem Algorithmen zur Bilderzeugung nicht dokumentiert sind, hat Wedekind mit eigenen Algorithmen ähnliche Bilder kongenial nachempfunden und so die Computerkunst wieder auferstehen lassen. Die technische Umsetzung wird mit der visuellen Programmierumgebung Snap! realisiert. Über QR-Kodes kann man zu jedem Exponat Informationen abrufen, die auf einer eigenen Website „Digital Art“ dokumentiert sind.

Die leidige Diskussion, ob es sich um Kunst handelt, macht wenig Sinn, denn es handelt sich auf jeden Fall um ästhetische Erlebnisse in der klassischen Bedeutung von überraschenden visuellen Wahrnehmungen. Wenn sich die Augen darauf einlassen, kann man sich ihrer dekorativen Wirkung nicht entziehen. Die Grafiken erinnern auch an abstrakte Maler, die sich mit geometrischen Anordnungen beschäftigt haben. Deshalb ist der Titel „Künstliche Kunst“ etwas merkwürdig, denn alle Kunst ist künstlich. Mir haben die verspielten und bunten Lissajous-Grafiken besonders gefallen, bei denen die Überlagerung von Schwingungen visualisiert ist. Sie gehen auf den Mathematiker Ben F. Laposky zurück und Wedekind hat einige Beispiele realisiert. (21.07.2015)

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Sinus-Cosinus-Additionen III. Interessanterweise hängt die Lissajous-Grafik in der Ausstellung umgekehrt wie auf der Website abgebildet. Quelle: Joachim Wedekind

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Duschvorhang

Ein missachtetes Accessoire der visuellen Kultur ist der Duschvorhang als flexibler Sicht- und Spritzschutz. Früher schlicht durchsichtig oder milchig, wie der wohl berühmteste Duschvorhang im Film „Psycho“, strahlen die heutigen Dessins Frische und Lebensfreude aus. Es dominieren Blau und maritime Motive wie Fische, Muscheln, Tropfen, Wellen. Der Duschvorhang ist meist aus Kunststoff-Folie, nur gehobene Warmduscher leisten sich einen imprägnierten Textilvorhang. Vorsicht vor billigen Plastikvorhängen: „Grundsätzlich entsteht laut Bernoulli ein Strömungseffekt der während dem Duschen ein Unterdruck in der Dusche erzeugt und den Duschvorhang zum fallenden Wasser hinziehen kann, wenn dieser keine ausreichende Qualität besitzt. Allgemein bekannt ist das Phänomen als „am Körper kleben“ des Duschvorhangs.“ (17.07.2015)

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Der Duschvorhang verleiht dem Badezimmer einen individuellen Charakter. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Zum Gipfel

Für den G7-Gipfel auf Schloss Elmau am 7./8. Juni wurde eigens ein Logo in Auftrag gegeben. Es zeigt sieben farbige Streifen, die sich auf einem Gipfel vereinen. Nachdem Putin aus dem illustren Kreis herausflog, musste ein Streifen entfernt werden, das Logo wurde nochmals überarbeitet. Es kostete 79 964 Euro und 43 Cent, aber das ist kein unverschämter Preis für einen Logo. Was man sich aber fragen darf: Macht es Sinn, für ein Quasseltreffen, bei dem außer Absichtsbekundungen und Bemühungszusagen nichts herauskommt, gleich ein Logo zu entwerfen? Das Treffen hat etwa 360 Millionen Euro gekostet (Bund der Steuerzahler), da fällt diese grafische Petitesse nicht sonderlich ins Gewicht. Immerhin wurde das Logo mehrfach verwendet, z. B. auch beim Außenministertreffen am 14./15. April in Lübeck. Es eignet sich in seiner optimistischen Botschaft offenbar für jede Zusammenkunft von Politikern. (16.07.2015)

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Auf verwinkelten, aber bunten Wegen gemeinsam zum Gipfel der Einigkeit. Quelle: Wikimedia Commons

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Antikampagne

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Aufkleber in Tübingen, der eine sehr erfolgreiche Kampagne persifliert, die seit 1999 mit Anzeigen Aufmerksamkeit erregt. Am Rande: Die Regionalwerbung mit dem Claim wurde von der Agentur Scholz-&-Friends zuerst Sachsen angeboten, aber dort abgelehnt. Foto: St.-P. Ballstaedt (15.07.2015)

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