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Lektüre zu Schreiben und Lesen

Henning Lobin (2014): Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt. Frankfurt am Main: Campus.

Weil Lesen und Schreiben mein Leben lang ein zentrales Thema war, hat mich der Untertitel schon gereizt: Der Computer nimmt uns Schreiben und Lesen ab? Henning Lobin, Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, referiert ausführlich, wie sich die Kulturtechniken und die Kommunikationsakte des Lesens und Schreibens durch den Computer geändert haben und sich mit ihnen die Texte und Institutionen verändern. Er beschreibt einen Übergang von der Druckkultur zur Digitalkultur.

Vieles habe ich selbst erlebt: Ich habe noch handschriftliche Manuskripte, auf der Schreibmaschine geschrieben Texte (und mit Wachsmatrizen vervielfältigt), dann die ersten digitalen Texte mit Nadeldruckern ausgedruckt. Verschwunden sind Durchschlagpapier, Diktiergeräte, Disketten usw. Bei der Lektüre des Buches ist mir deutlich geworden, in welcher rasanten kulturellen Evolution man selbst involviert ist. Besonders spannend sind die Prognosen, denn sie gehen fast alle von bereits vorhandenen technischen Möglichkeiten aus und extrapolieren sie nur konsequent: automatische Übersetzung, Texterkennung, maschinelles Lesen, Text Mining, kollaboratives Schreiben, Language Checker usw.

Sowohl beim Lesen wie beim Schreiben sieht Lobin drei Tendenzen: 1. Hybridität: Schreiben wie Lesen sind ohne Computer nicht mehr möglich, der digitale Text entsteht in Interaktion mit Textverarbeitungs- und Autorensystemen, die bestimmte Vorgabe machen oder zumindest vorschlagen. In seinem Blog hat Lobin seine Texterstellung dokumentiert. 2. Multimedialität (besser Multikodalität): In den Text werden stille und bewegte Bilder jeder Art integriert, es entstehen multikodale Kommunikate, die sowohl in der Produktion wie in der Rezeption neue Fähigkeiten erfordern. Ein Beispiel sind die Präsentationen (über die Lobin ein ebenfalls lesenswertes Buch geschrieben hat). 3. Sozialität: Schreiben und Lesen sind in der Druckkultur einsame Kommunikationsakte, in der Digitalkultur findet über Texte ein reger Austausch im Netz statt: Bewertungen und Rezensionen in sozialen Netzwerken und Blogs.

Tatsächlich ist ein Stadium denkbar, in dem Bücher in den Computer diktiert und als Hörbuch rezipiert werden. Das klassische Schreiben und Lesen wäre damit verschwunden. Von Ernst Bloch erzählt man, er habe seine Bücher auf dem Sofa liegend und Pfeife rauchend seinem Assistenten diktiert, er hat sie also streng genommen gar nicht geschrieben. Es bleibt die Externalisierung von Gedanken in Zeichen – Texte, Bilder, Visualisierungen – und die Sinnentnahme aufgrund dieser Zeichen.

Diskussionsstoff bieten die Passagen über Kultur und kulturelle Evolution. Man kann Kultur als Zeichensystem auffassen, aber die Übertragung der Sprache mit syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln auf andere kulturelle Zeichenkomplexe, z.B. den Film, führt oft nur zu oberflächlichen Analogien. Auch die Anwendung der Memetik von Richard Dawkins auf die digitale Evolution ist anregend, aber doch sehr gewagt und umstritten. Aber Lobins Analysen und Prognosen bleiben gültig, auch wenn man diesen Sprung in die Meme nicht nachvollziehen kann.

Sehr angenehm ist, dass Lobin die Veränderungen beschreibt und analysiert, ohne in die üblichen Argumentationsmuster von Apokalyptikern oder Integrierten zu verfallen. Vor allem im 7. Kapitel „Was vergeht? Was entsteht?“ weist er auf problematische Entwicklungen hin: Verringerung der sprachlichen Tiefe von Texten; Abkehr vom linearen Lesen und damit vom Verstehen komplexer Argumentationen; Aussterben der individuellen Handschrift; Suchmaschinen statt Bibliotheken, Möglichkeiten der Zensur und Kommunikationskontrolle usw. Wir haben zwar die Steuerung über die digitale Welt verloren, aber durch Politik und Gesetzgebung können bestimmte Entwicklungen gefördert oder behindern werden. Sehr bedenkenswert sein Vorschlag, einen öffentlich-rechtliche Suchmaschinenbetreiber zu etablieren, dessen Algorithmen kein Geheimnis sind und der nicht mit den Anfragen und Kommunikaten seiner Nutzer Geld verdient.

Wer war übrigens Douglas Engelbart? Ein amerikanischer Informatiker, der viel zur Digitalkultur beigetragen hat, z.B. die Maus. Er hat 1968 in einer Demonstration auf der Fall Joint Computer Conference gezeigt, wie ein digitaler Text entsteht und verändert wird. (14.02.2015)

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Douglas Engelbarts Tagtraum von der Digitalkultur. Quelle: http://www.scilogs.de/

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Eingangsvoraussetzung

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Schild an der Tür der Kneipe „The last Resort“ in der Mühlstraße in Tübingen. Da müssen wohl viele draußen bleiben. Foto: St.- P. Ballstaedt (11.02.2015)

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Mona Paprika

Auf einer roten Paprika habe ich einen Aufkleber mit der Darstellung der Mona Lisa entdeckt (hier Monna Lisa, vermutlich der italienische Gemüseproduzent). Das Bildchen hätte Aby Warburg erfreut, der die Geschichte von Bildmotiven untersucht hat. Seine Bildtafeln mit Motivgruppen, in die er alle visuellen Dokumente wie Werbung, Briefmarken, Streichholzschachteln usw. gruppierte, sind leider verloren gegangen, aber seine Ikonologie hat sich als kulturwissenschaftlichen Methode etabliert. Die Mona Lisa des Leonardo da Vinci ist ein Gemälde, das in unzähligen Varianten als Symbol der Renaissance verbreitet ist, vom T-Shirt über Kaffeetassen bis zu Karikaturen. (10.02.2015)

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Von einer Paprika lächelt Mona, aber nur wenn man genau hinschaut. Fotos: St.-P. Ballstaedt

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Amygdala

Eine schöne Bezeichnung für ein paariges Hirnareal (deutsch: Mandelkern), das vor allem der emotionalen Bewertung von Objekten und Situationen dient. Es ist Teil des entwicklungsgeschichtlich alten Limbischen Systems. Mit neurowissenschaftlichen Untersuchungen hat man herausgefunden, dass die rechte Amygdala sehr stark auf Tierbilder reagiert, die linke hingegen nicht. Dabei spiel es keine Rolle, um welche Tiere es sich handelt. Der Anblick von Tieren war für den Menschen immer bedeutsam: Es kann sich um Fressfeinde oder Beutetiere handeln, zudem wurden Tiere als Haus- und Zuchttiere wichtig. Da Tiere Aufmerksamkeit erregen und emotionalisieren, tauchen sie auch gern in der Werbung auf. Nur ein Beispiel: Der italienische Magenbitter Fernet-Branca hat im Laufe der Zeit einen ganzen Zoo eingesetzt. (08.02.2015)

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Affe, Krokodil, Adler: Fernet-Branca verleiht magische Kräfte und liebt Tiere in seiner Werbung.

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Unika

Unikale = einmalige Morpheme haben schon immer mein Interesse erregt. Es handelt sich um Wortbestandteile, die nur in einer einzigen Verbindung vorkommen, z. B. {brom} in der Brombeere oder {schorn} im Schornstein. Das spannende daran: Meist kann die Bedeutung des unikalen Morphems nur mit erheblichen sprachgeschichtlichen Kenntnissen oder gar nicht mehr rekonstruiert werden. Bei der Himbeere z.B. vermutet man, dass es ursprünglich eine Hindsbeere war, also eine Beere, die gern von Hinden = Hirschkühen gegessen wird. Im Wort „beschwichtigen“ geht das Morphem {schwicht} nach einigen Lautverschiebungen auf „schweigen“ zurück. Bei Bräutigam geht das {gam} etymologisch auf das althochdeutsch gomo = Homo = Mann zurück. Unikale Morpheme sind sozusagen sprachliche Fossilien. (07.02.2015)

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Man Spreading

Als Fortsetzung meines gestrigen Beitrags lese ich heute in der Zeitung, dass die Verkehrsgesellschaft MTA in der New Yorker U-Bahn jetzt Schilder aufgehängt hat, um den Scherensitz zu bekämpfen. Vor allem Männer lümmeln sich breitbeinig über drei Sitze, selbst wenn der Wagen brechend voll ist. Das ist eine dominierende Markierung eines Territoriums, verbunden mit einer kulturell anpassten Form der Genitalpräsentation bei männlichen Primaten. (04.02.2015)

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Neues Piktogramm in der U-Bahn von New York gegen rücksichtslose Schenkelspreizer: Your balls are not that big!

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No Sex

Verbote sind ja nur notwendig, wenn das untersagte Verhalten üblich ist. Deshalb sind Verbotsschilder auch ein Indikator für Verhaltensweisen. Bei den No-Sex-Piktogrammen unterscheiden sich die Stellungen von Land zu Land. (03.02.2015)

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Das erste Schild ist aus Vietnam. Quelle: Saigoneer.com. Auf der Site findet man noch einige andere merkwürdige öffentliche Schilder. No-Sex-Schilder findet man auch in Europa, das zweite stammt aus Budapest aus einer Toilette auf der Margareteninsel. Foto: Werner Remmele in seinem Reiseblog .

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Weniger eindeutig in ordentlicher Missionarsstellung: eine deutsche Variante des Sex-Verbots.

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Wurstsalat

Wurstsalat

Aushang: Da weiß man doch gleich, was man bestellen soll. Hoffentlich ist die Wurst noch frisch! Miserables Foto von St.-P. Ballstaedt (02.02.2015)

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Entwelschung

In einer Krabbelkiste vor einem Antiquariat habe ich das Buch „Entwelschung, Verdeutschungswörterbuch für Amt, Schule, Haus, Leben“ von Eduard Engel aus dem Jahre 1918 gefunden. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Engel war ein fanatischer Sprachpurist, der die deutsche Sprache von allen fremden Einflüssen reinigen wollte. Aus der Einleitung (S. 28) „Ich halte die Welscherei in der Tat für geistigen Landesverrat und lehne jede Mahnung zu größerer Milde oder Höflichkeit ab.“ Seine Kritiker bezeichnet er als „Pack“, welches der „Besudelung und Verrottung“ der Muttersprache keinen Einhalt gebietet. Sein Zorn und Hass verleiten ihn oft zu unwissenschaftlichen und irrigen Eindeutschungen. Den literarischen Naturalismus übersetzt er mit Abklatschkunst, Alltagsäfferei, Kunstlosigkeit, Nachstümperei.

Eduard Engel ist gegen alle fremdsprachlichen Einflüsse, konkret hatte er es aber vor allem mit den im 19. Jahrhundert eingeführten Gallizismen zu tun. Liest man seine Vorschläge zur Verdeutschung unvoreingenommen durch, so ist man doch überrascht für wie viele Fremd- oder Lehnwörter es einen treffenden deutschen Ausdruck gibt. Aber es gibt auch viele Eindeutschungen, mit denen er sich schon damals lächerlich gemacht hat: Fatal = schicksalig; zentralisieren = vermittelpunkten; Makkaroni = Hohlnudeln; Mayonnaise = Öltunke; Limonade = Saftwasser; Kompost = Dungmischung; Pessimist = Schwarzseher, Trübsalbläser oder Weltschmerzler; Optimist = Schönfärber, Frohhoffnungsmensch oder Immerfroher. Und ob Drogisten mit der Bezeichnung “Drogenhändler” zufrieden wären, kann man bezweifeln. (01.02.2015)

Entwelschung

Das Buch eines Fremdwortfeindes, der mit seiner Deutschtümelei die Ideologie des Nationalsozialismus vorbereitet hat. Foto: St.-P. Ballstaedt

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