Archive | Aktuell

Greisengemurmel

Milan Kundera hat nach vielen Jahren mit 85 einen Roman geschrieben: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Ich habe das Buch gestern gelesen und halte die zusammengeleimten Szenen für keinen großen Wurf. Aber es ärgert mich, dass Wolfgang Höbel in seiner Kurzrezension im KulturSPIEGEL (März 2015) das Alterswerk als „Greisengemurmel“ abtut. Ich erinnere mich, dass vor einigen Jahren auch die Romane „Exit Ghost“ von Philip Roth und „Ein liebender Mann“ von Martin Walser als peinliche Degenerationsliteratur bezeichnet wurden. In der TAZ schrieb Wiebke Porombka: „Deshalb bleibt es, bei allem gebotenen Respekt für die Alten, legitim zu fragen, ob man so was wirklich lesen will.“ Bei den unzähligen Romanen über Pubertät, Jugendprobleme, Midlife Crisis, Wechseljahre, Krankheiten, gescheiterte Ehen usw. fällt doch auf, dass jede Nuance der Befindlichkeit bei jüngeren Menschen und Frauen einen Roman wert ist, die Befindlichkeit älterer Männer aber offenbar nicht. (02.03.2015)

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Grapefruit

Pampellmuhseh

Nonsense mit breitem Pinselstrich am Nonnenhaus in Tübingen. Vielleicht hat ein wenig begabter Sprachstudierender eine Morphemanalyse versucht. Das merkwürdige Wort für die Zitrusfrucht kommt vom Niederländischen „pompelmoes“. Ursprung ist vermutlich im Tamilischen „bambolmas“. Foto: St.-P. Ballstaedt (01.03.2015).

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Spazierwanderer

Wortwarte aktiv: In der Umgebung von Tübingen sollen 30 Premiumwege für Spazierwanderer angelegt werden. Das Kompositum ist neu, es werden zwei Tätigkeiten in einem Wort kombiniert. Derartige Verbindungen sind selten. Andere Beispiele für Tätigkeitskombinationen oder modern Multitasking: In der Technik gibt es das Spritzgießen und im Alltag das Stehpinkeln. (28.02.2015)

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Emojis

Von den Smilies über die Emoticons zu den Emojis (japanisch = Bildzeichen). Die Bilder sind in der elektronischen Kommunikation auf dem Vormarsch, in E-Mails, Chats, Tweets, Posts usw.

Die bunten Ideogramme stehen für einen Begriff, das ist eine Regression auf den Ursprung der Schrift. So sehen auch einige Wissenschaftler diese Entwicklung als weiteren Beleg für den Niedergang der Schriftkultur. Andere sehen in den Bildchen eine spielerische und kreative Ergänzung der Sprache. Was mich jedoch verwundert: Das Unikode-Konsortiums standardisiert seit 2010 Emojis. In Unicode soll jedes sinntragende Schriftzeichen auf der Welt eine Kodierung zugewiesen bekommen. Da ein Zeichen aus Unicode niemals wieder entfernt wird, wertet das die Emoijs zur einer internationalen Bild”sprache” auf.

Die ursprünglichen Emojis sind noch sehr von den japanischen Mangas und deren visuellen Konventionen geprägt, inzwischen gibt es zahlreiche grafische Varianten. Kodiert wird nur ein abstraktes Zeichen (= character). Wie sie dann aber konkret aussieht (= Glyphe), das bestimmt das jeweilige Betriebssystem oder der jeweilige Zeichensatz. Auch ein A sieht ja in verschieden Fonts unterschiedlich aus.

Einzelne Emojis können zu Sätzen kombiniert werden, aber hier zeigt sich die Beschränkung des bildlichen Zeichensystems: Auch wenn man die Bedeutung einzelner Emojis versteht – was auch nicht immer einfach ist -, das Verstehen der Kombination setzt erhebliche Interpretationsleistung voraus. (25.02.2015)

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Pfirsich, Aubergine, Party Popper, Verneinung, Haufen: Was bedeutet diese Bildfolge?

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Intarsien 2

Aus dem Familienbestand noch ein Beispiel für ein Kästchen mit Strohintarsien, dessen Entstehungsjahr eingelegt ist: 1943. Die Geschichte dazu: Derartige Dekorationen wurden gern von Soldaten hergestellt und nach Hause geschickt. Im Deckel des Kastens steht mit Tinte geschrieben und mit Veilchenblättern umrahmt: „Juli 1943. Gewidmet von Deinem lieben Sohn Gottlob“. Kurz danach ist Gottlob in Russland gefallen. (24.02.2015)

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Letzter Gruß aus dem Krieg. Foto: St.-P. Ballstaedt

Nachtrag

Von Ingraban D. Simon hat mich heute in einer E-Mail folgende Information erreicht.“ Diese Arbeiten wurden in der Regel nicht von deutschen Soldaten hergestellt sondern von sowjetischen Kriegsgefangenen, die sie als Tauschobjekt für Lebensmittel fertigten.“ Er hat eine Dokumentation derartige Strohmosaiken zusammengestellt. (31.03.2015)

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Giraffe

Das Stencil habe ich in der Tübinger Altstadt am Nonnenhaus entdeckt. Wie so oft, bleibt die Bedeutung unklar. Meine Vermutung: Die Giraffe ist das Symbol für gewaltfreie Kommunikation. Das große Herz – das größte bei Landsäugern – steht für Empathie und der lange Hals steht für Weitsicht. Eingeführt hat diese Symbolik der Therapeut Marshall Rosenberg, der Ideen der humanistischen Psychologie von Carl Rogers weiterentwickelt hat. Er lehrt in seinen Workshops über gewaltfreie Kommunikation das nicht wertende Sprechens und das einfühlsame Zuhören. Der Gegenspieler der Giraffe ist der Schakal bzw. im Deutschen der Wolf. Er steht für Urteilen, Kritisieren, Analysieren, Moralisieren, Beschuldigen und für nicht einfühlsames Zuhören. (23.02.2015)

Giraffe

Orange hier nicht als Warnfarbe: Im Buddhismus symbolisiert Orange die höchste Stufe menschlicher Erleuchtung. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Intarsien 1

Beim Aufräumen im Keller habe ich eine Schatulle wiederentdeckt, die auf schwarzem Grund mit Strohintarsien geschmückt ist. Das hat mich zu einer kleinen Recherche zu dieser Dekorationsform veranlasst. Bei Intarsien (it. intarsiare = einlegen) werden mit einem Schnitzmesser zugeschnittene Holzstückchen zu Mustern und Bildern zusammengelegt. Derartige Arbeiten aus Holz waren bereits 2000 v. Chr. in Ägypten bekannt, dort wurden Möbel damit verziert. Für Europa waren vor allem islamische Einflüsse über die Mauren prägend, in der Renaissance entstanden in Italien zahlreiche Werkstätten. Von Italien breitet sich das Kunsthandwerk über Tirol nach Süddeutschland aus, Zentren waren Augsburg und Nürnberg. Als Kunstform gibt es die Intarsie heute nicht mehr, sie ist zum Hobby geworden. Über den Ursprung der Strohintarsien habe ich gar nichts gefunden, vermutlich handelt es sich bei dieser Form von Intarsien um „gesunkenes Kulturgut“ in Schichten, die keine teuren Edelhölzer verarbeiten konnten. (22.02.2015)

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Zwei Pilzmotive mit Stroh in zwei Farben gelegt. Foto: St.-P. Ballstaedt.

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Nomen est Omen

Im Tagblatt bieten zwei Damen in einem Inserat erotische Dienstleitungen unter den Künstlernamen Titti und Vicky an. Fehlt noch der berühmte Bordellier Otto Schwanz. (20.02.2015)

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Bewerbungsfotos

Um Chancengleichheit zu gewährleisten, dürfen seit 2007 Arbeitgeber kein Bewerbungsfoto mehr fordern, trotzdem ist es Bestandteil der meisten Bewerbungen geblieben. Ein derartiges Portraitfoto hat seine klare Funktion: Es soll die Bewerberin oder den Bewerber möglichst vorteilhaft und für die jeweilige Stelle passend präsentieren. Es haben sich zahlreiche Richtlinien zur Gestaltung von Bewerbungsfotos gebildet. Aus verschiedenen Quellen hier eine Checkliste:

  • Der Bewerber bzw. die Bewerberin muss lächeln, aber nur mit leicht geöffnetem Mund, keine Zähne zeigen!
  • Der Blick ist direkt auf den Betrachter gerichtet, aber der Kopf darf nicht geneigt sein. Das Gesicht darf nie von oben oder unten aufgenommen werden (keine Vogel- oder Froschperspektive).
  • Das Gesicht muss von Haaren frei sein, die Frisur fixiert.
  • Die Augen müssen Wachheit, Neugier, Begeisterung, Offenheit, Freundlichkeit, Souveränität und Professionalität ausstrahlen.
  • Insgesamt ist ein gepflegtes Erscheinungsbild wichtig. Die Kleidung muss arbeitsplatzbezogen gewählt sein: konservativ, zurückhaltend, korrekt.
  • Bei Bewerbern für Führungspositionen immer ein helles, einfarbiges Hemd, dezente, nicht zu farbige Krawatte, dunkles Jackett.
  • Bei Bewerberinnen Bluse und Blazer, kein übertriebener Schmuck, kein aufdringliches Makeup. Bewerberinnen sollten nicht zu nett und niedlich wirken, sondern eher etwas dominant. Kein Dekolletee !
  • Der Hintergrund muss neutral und hell sein. Der Kopf darf nicht angeschnitten werden, keine Hände im Gesicht.

Ein derartiges PR-Foto bekommt natürlich nur ein professioneller Fotograf hin. Vor allem die Ausleuchtung muss stimmen. Und für Makel gibt es ja noch Photoshop. Es bleibt die Frage, wie man im Rahmen derart standardisierter Portraits überhaupt noch Individualität ausdrücken kann? Also lasst die Bewerbungsfotos weg! (19.02.2015)

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Keine Chance auf eine Führungsposition: Fehlende Krawatte, helles Sacco, Frisur nicht fixiert, Blick unprofessionell. Foto: Tübingen Foto Kleinfeldt.

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