Herioc turn

Ein Wort liest und hört man derzeit erstaunlich häufig: Held oder Heldin. “Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, ein Satz, den Bertold Brecht dem Galileo Galilei in den Mund gelegt hat. Es gibt Bücher, die Helden im Titel führen. Anne Weber: „Annette, Heldinnenepos“ oder Doris Dörrie „Heldin auf Reisen“. In Pristina wurde ein Denkmal für die während des Kosovo-Krieges vergewaltigten Frauen mit der Inschrift „Heldinnen“ aufgestellt. Ukrainische Soldaten im Krieg gegen Russland werden als Helden gefeiert, Helden brauchen immer ein bedrohliches Feindbild, vor dem ihre Taten bewertet werden.

Der Tübinger Komparatist Jürgen Wertheimer bietet eine Vorlesungsreihe „Europas phantastische Held*innen – eine literarische Spurensuche“ an, in dem er literarische Figuren der europäischen Geistesgeschichte interpretiert: König Lear – Don Quijote, Robin Hood – Wilhelm Tell, Zarathustra – Jesus, Macbeth – Hagen, Werther – Raskolnikow, Anna Karenina – Nora. Eine bunte Mischung, die man nur schwer unter dem Label „Held*in“ vereinen kann. Wertheimer will weg von einer martialischen Definition des Helden und bezieht sich auf eine Definition bei Aristoteles, der einem Helden die Eigenschaften dominant, ehrgeizig und hochmütig zuschreibt. Ein Held kann aber durchaus Fehler machen und auch einmal Scheitern, aber er geht daraus gefestigt hervor. Körperliche Stärke und Mut nennt Aristoteles nicht. Aber auch dieser Definition lassen sich die literarischen Personen nicht zuordnen. Raskolnikow ein Held? König Lear und Don Quijote sind doch – salopp gesprochen – unbelehrbare Sturköpfe, warum Helden? Gibt es für Wertheiner überhaupt eine literarische Figur, die nicht unter seine breite Kategorie des Helden fällt?

Im ZEITmagazin vom 2.6.2022 kann man einen Essay über Helden lesen: „Woher kommt der Mut?“ Als Urtypen des Heldischen werden die Gestalt des David im Alten Testament und die Gestalt der Judith beschrieben. Beide retten ihr Volk durch eine beherzte Tat. Hier werden zwei Merkmale ins Zentrum gestellt: Mut und Selbstvertrauen. Das sind Eigenschaften, die Nawalny oder Selensky gegenüber Putin zu Helden machen, der sich ja gern in heldischer Pose mit nacktem Oberkörper beim Jagen ablichten lässt. (11.06.2022)

In Comics und deren Verfilmung kämpfen Heldinnen mutig und mit Selbstvertrauen gegen das Böse. Bild: Cover der Serie Supergirl, Wikimedia Commons

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Macht der Bilder

Zum internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai veröffentlicht Reporter ohne Grenzen immer einen Fotoband, diesmal unter dem Titel „Den Mächtigen gegenüber steht die Macht der Bilder.“ International renommierte Fotografinnen und Fotografen stellen dafür ihre Arbeiten zur Verfügung.

Dass der Titel seine Berechtigung hat, zeigen die aktuellen Fotos aus den Lagern, in denen die chinesische Führung Uiguren gefangen hält, angeblich freiwillige Ausbildungszentren, in denen die Menschen „in Frieden und Glück leben“. Die Xinjiang Police Files enthalten Dokumente, darunter auch Fotos, die eindeutig Folter belegen. Man wird an die scheußlichen Fotos aus dem Gefängnis Abu Ghraib im Irak erinnert, wie Soldaten der USA die Insassen quälten.

Aber auch Fotos werden sofort dementiert, sie werden als inszeniert oder manipuliert hingestellt. Letztes Beispiel: Die Fotos und Videos von Leichen aus Butscha in der Ukraine, die Kriegsverbrechen russischer Soldaten belegen sollen. Sie werden von der russischen Militärführung als nachträglich arrangiert, als visuelle Lügen bezeichnet. Mit geradezu kriminalistischen Methoden muss die Echtheit der Bilder rekonstruiert werden. (30.05.2022)

Der Fotoband von Reporter ohne Grenzen. „Wenn sich Zustände ändern sollen, sind die Fotos für die Pressefreiheit wichtig, um die Folgen von Krieg, Zerstörung und Unterdrückung immer wieder sichtbar zu machen, überall auf der Welt.“ (Bettina Schellong-Lammel, Medienmagazin NITRO). Quelle: Reporter ohne Grenzen

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Schablonen-Portraits

Ein bekannter französischer Street-Art-Künstler, Christian Guémy alias C215, hat in Tübingen einen Parcours mit Schablonenbildern gestaltet, die Portraits Tübinger Persönlichkeiten darstellen, natürlich Hölderlin, Hesse, Hegel und andere. Sie befinden sich auf Stromkästen, Mauern oder Häuserwänden. Passend zur Location an der Wand des Kinos Arsenal ein Portrait von Lotte Reiniger. Sie ist durch Ihre Silhouettenfilme bekannt geworden und gilt als Pionierin des Trickfilms. Mit vielen bekannten Persönlichkeiten aus allen Künsten hat sie damals zusammen gearbeitet: Max Reinhardt, Paul Dessau, Kurt Weill, Bertold Brecht, Moholy-Nagy, Carl Zuckmayer, Benjamin Britten, um nur einige zu nennen.

Im Jahr 1979 übersiedelte Lotte Reiniger nach Dettenhausen bei Tübingen, auf dem Friedhof dort ist sie auch beigesetzt. Ein Teil des Nachlasses ist im Tübinger Stadtmuseum unter dem Titel „Die Welt in Licht und Schatten“ ausgestellt. Foto: St.-P. Ballstaedt (25.05.2022)

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Projektion

Die Bilder der amerikanischen Malerin Georgia O’Keefe kennt wahrscheinlich jeder von Kunstpostkarten, ihre Blumenbilder sind beliebte Motive. Jetzt kann man einen Ausschnitt aus ihrem Gesamtwerk in der Fondation Beyerle in Basel besichtigen. Dabei wird schnell deutlich, dass man die Malerin keineswegs auf ihre Blumen festlegen kann, ihr Werke umfasst auch viele abstrakte Gemälde, Landschafts- und Städteansichten, Steine und Knochen, nur Menschen hat sie überhaupt nicht gemalt.

Betrachtende Ihrer Blumengemälde haben immer wieder eine erotische Ausstrahlung bemerkt, manche gehen soweit, in den Blumen verschleierte Darstellungen weiblicher Genitalien zu sehen. Sigmund Freud war 1909 in den USA und hatte seine Psychoanalyse dort vorgestellt und den erotisierten Blick auf die Blumenbilder verstärkt. Feministinnen haben O’Keefe als Urheberin einer weiblichen Ikonographie gefeiert, sie selbst hat diese Interpretationen abgelehnt.

Hat man die erotische Brille auf, dann erkennt man auch in den Landschaften plötzlich anatomische Hautfalten, Schenkel, Schamhaare und dergleichen. Man kann darin die Wirkung der Projektion erkennen. Wer ein Bild betrachtet, der nimmt nicht nur visuelle Inhalte auf, sondern schaut auch Inhalte in das Bild hinein. Mit den abstrakten Tintenklecksen im Rorschach-Test wird das als diagnostisches Mittel ausgenutzt. (22.05.2022)

Vor dem Gemälde „White Iris No. 7“ (1957). Eine harmlose Blume oder eine  lüsterne Blüte? Foto: St.-P. Ballstaedt

Nachtrag: Fotos aus dem Tübinger Botanischen Garten, inspiriert von der Malerin O’Keefe. Fotos: St.-P. Ballstaedt (26.05.2022)

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Kommunikationsstile

Die SPD hat in NRW Federn lassen müssen und jetzt werden die Gründe dafür gesucht. Eine Ursache wird in allen Zeitungen genannt: Die suboptimale Kommunikation des Bundeskanzlers Olaf Scholz: Er sei schmallippig, zurückhaltend, ängstlich, abwartend, reißt nicht mit, erklärt zu wenig, rede zu wenig emotional, sei teilweise schwer verständlich, wirke nicht überzeugend, komme insgesamt langweilig und sedierend rüber. Demgegenüber werden der klare Kommunikationsstil bei Annalena Baerbock und der nachdenkliche bei Robert Habeck gelobt.

Nun stellt sich die Frage, ob ein Kommunikationstraining oder ein/e Kommunikationsmanager/in da Abhilfe schaffen könnte. Man kann die Artikulation, die Körpersprache, die Rhetorik in Grenzen sicher verändern, aber bleibt man dann noch authentisch? Oder wird man zum Schauspieler, der ein antrainiertes Verhalten präsentiert? Man sollte nicht vergessen, dass der Stil von Scholz vor nicht allzu langer Zeit noch als Besonnenheit und Unaufgeregtheit durchging. Zudem sind jetzt wichtigere Probleme zu diskutieren und Entscheidungen zu fällen, als die Zeit mit Kommunikationsübungen zu verbringen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass unterschiedliche Persönlichkeiten auch unterschiedliche Kommunikationsstile haben, die sich vielleicht mit zunehmenden Anforderungen verändern, aber nicht schlicht abtrainiert werden können. (17.05.2022)

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stoned

Diesen drastischen Aufkleber habe ich an einem Laternenmast in Tübingen gefunden. Die Botschaft ist klar: Kiffer gegen Rechts. Stone steht für Kiffer, 420 ist ein amerikanisches Codewort für Cannabis. Die Art der Attacke ist mir aber nicht verständlich. Foto: St.-P. Ballstaedt (12.05.2022)

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Frühlingsfest

Jetzt hat es einige Schausteller auf dem Cannstatter Frühlingsfest erwischt. Besucherinnen haben mit Entsetzen entdeckt, dass an manchen Fahrgeschäften Frauen in sexistischer Weise dargestellt sind. Die Motive der Schausteller- oder Kirmes-Malerei in Airbrush-Technik mit knalligen Farben und karikaturhaften Überzeichnungen gehen auf die Pin-ups und die Kinotransparentmalerei zurück: Frauen in erotischen Posen, die Brust und Hintern betonen, tiefe Dekolletees und gern Frauen, denen der Wind das Kleidchen lüftet oder ein Dund das Röckchen runterzieht. Nach einem klärenden Gespräch haben die betroffenen Schausteller zugesagt, diese Motive übermalen zu lassen.

Bilderverbote sind immer interessante Indikatoren für zivilisatorische Prozesse, aber betrüblich ist es schon, dass diese markante Malerei zensiert wird. Gar kein Zweifel, dass Frauen hier als sexuelle Objekte abgebildet sind, aber auch die Männer werden nicht besonders schmeichelhaft als gewaltbereite Muskelpakete gezeigt. Und erst auf den Geisterbahnen: Was wird da an Außendekoration den Kindern an weiblichen Hexen und männlichen Monstern zugemutet. Auch hier ist noch Handlungsbedarf. (08.05.2022)

Muss man Waffeln mit Eiscreme so anbieten? Eigentlich nicht, aber sollte man es übermalen? Foto: in memoriam Wolfgang Scherer.

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Nicht-flache Brüste

Da ist der Göttinger Sport und Freizeit GmbH ein wirklicher Coup gelungen, der sie in alle Blätter der Republik gebracht hat:“ Samstags und sonntags wird das Tragen eines Oberteils als Badebekleidung allen Besuchern der Schwimmhalle freigestellt.“ Konkret: Frauen dürfen auch oben-ohne ins Wasser. So weit, so schön.

Die Vorgeschichte: Letzten August ging eine Person nicht-binärer Identität mit nackten Brüsten ins Wasser. Die Bademeister sahen jedoch in den Brüsten ein weibliches Merkmal und damit einen Verstoß gegen die Badeordnung. Die Person bekam Badverbot.

Das soll nun nicht mehr passieren. Das queere Netzwerk ist sehr zufrieden. Der Geschäftsführer: “Es gibt keinen Grund, warum die als weiblich verstandene Brust stark sexualisiert wird und entsprechend verdeckt werden muss.“ Auf längere Sicht wird die Oben-ohne-Regelung als sinnvoll erachtet, „um der Sexualisierung nicht-flacher Brüste entgegenzutreten.“ Auch die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Göttingen befindet, dass für eine Gleichstellung der Geschlechter der weibliche Körper entsexualisiert werden muss.

Da hat man sich ja ein anstrengendes Projekt vorgenommen, denn die weiblich Brust ist zumindest in unserer Kultur ein erotischer Reiz mit biologischen Wurzeln. Schon in der Bibel  finden wir im Hohen Lied den schönen Satz: „Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden.“ Welche Rolle Brüste, Busen, Dekolletees usw in Kunst und Kultur spielen, muss ich hier nicht ausmalen. Warum die Brüste, auch die nicht-binären, entsexualisisieren? Eine aberwitzige Begründung für die kleine Freiheit, mit nicht flachen Brüsten unverhüllt zu baden.

Auf eine Bebilderung dieses Beitrag verzichte ich diesmal, obwohl ich da hübsche Einfälle hätte. (03.05.2022)

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Historischer Humor 13

Aus den 70er-Jahren habe ich aus einer Anleitung für Lastfahrzeuggetriebe zwei Abbildungen, die damals witzig und adressatengerecht sein sollten, aber heute peinlich und sexistisch wirken. Auf beiden Bilder ist als Akteur ein spitznasiger Mann mit Mütze zu sehen. Im ersten Bild erhält er mit einem Transparentbild Einsicht in das Getriebe, was mit einer Metapher visualisiert wird. Im zweiten Bild lässt er sich an einem Diagramm den Zusammenhang zwischen Tempo und Zugkraft zeigen, auch hier wird eine gewagte Metapher benutzt.

Das war in den 70ern noch möglich: erotische Metaphern in einer technischen Dokumentation. Leider habe ich die Quelle für die Bilder nicht mehr ausfindig machen können. (02.05.2022)

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Holzvollernter

In den letzten Monaten waren etliche Artikel und Leserbriefe zum Thema Waldbewirtschaftung und Waldpflege in der Lokalzeitung. Aufgefallen ist mir dabei die Terminologie, die in der Forstwirtschaft benutzt werden: Eine kleine Liste von Fachwörtern:

Altersklassenwald, Waldfunktionskartierung, Zielstärkennutzung, Kurzumtriebsplantage, Umtriebzeit, Endnutzung, Schlagpflege, Hiebsatz, Bonitierung, Ertragsklasse, Industrieholz, Erntefestmeter, Holzvollernter (Harvester), Rückgasse usw.

Wer sich für die Bedeutungen interessiert, kann sie im forstwissenschaftlichen Glossar nachschlagen. Irgendwie zeigen diese Wortbildungen doch deutlich das Verhältnis zum Wald, das die Forstwissenschaft vertritt und uns schlichten Waldfreunden nahebringen möchte. (25.04.2022)

Nach der Ernte. Waldendnutzung im Schönbuch. Fotos: St.-P. Ballstaedt

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