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Verzögerungslaute

Was man in rhetorischen Schulungen für öffentliche Auftritte wegzutrainieren versucht, hat durchaus psychologische und kommunikative Bedeutung: die Häsitationen. Das sind Füll-, Verlegenheits-, Pausen- oder Flicklaute, die beim Sprechen eingestreut werden, also „äh“, „ähm“, „mh“.
Die psychologische Funktion: Es werden Pausen in die Sprechatmung eingebaut, um einen Gedanken zu verbalisieren und die richtige Wortwahl zu treffen oder eine Wortwahl zu korrigieren. Diese Verzögerung verweist also auf die Verfertigung des Gedankens beim Reden und kann ein Indikator sowohl für intensives wie für ungeordnetes Denken dienen.
Die kommunikative Funktion: Häsitationen signalisieren dem Adressaten, dass der/die Sprechende noch nicht mit der Äußerung abgeschlossen hat oder etwas korrigieren möchte. Gern dienen sie auch als Ausdruck distanzierender Ironie, um eine bestimmte Bedeutung nahezulegen. Beispiel aus Wikipedia: „Sie reisen also mit ihrer, äh, Gemahlin?“ Deshalb sind Füllwörter auch ein beliebtes Stilmittel von Kabarettisten.

Jetzt hat eine umfangreiche phonetische Studie an der Universität Trier ergeben, dass es ein individuelles Verzögerungsverhalten gibt, an dem man eine Person erkennen kann. Die Häsitationen spielen damit eine wichtige Rolle in der forensischen Linguistik, um Sprecher und Sprecherinnen eindeutig zu identifizieren. (25.07.2023)

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Verlagswesen

Heute am 17.7.2023 wird mein neues Buch ausgeliefert: „Wissenschaftliche Bilder: gut gestalten, richtig verwenden.“ Leider ist dem Verlag ein schwerwiegender Fehler unterlaufen: Etliche Abbildungen im Buch sind nur schwarz-weiß, obwohl sie aus didaktischen Gründen farbig sein müssen. Das ist mehr als peinlich bei einem Buch, in dem es um die verständliche Gestaltung von Abbildungen in Sachtexten geht. Das betrifft nur die Printausgabe, das E-Book ist farbig. Wer das Buch gekauft hat, der kann die farbigen Abbildungen beim Verlag abrufen.

Ich sehe diese Panne nicht als ein Versäumnis oder Fehler eines einzelnen Entscheidungsträgers, sondern als systemisches Problem: Der Verlag spart an seinen ursprünglichen Aufgaben: So gab es auch kein Lektorat, in vier Satzdurchläufen musste ich jeden Fehler in Text, Typografie und Layout selbst korrigieren. Hätte nur eine Person den Text inhaltlich gelesen, wäre klar gewesen, dass oft auf Farbe in den Abbildungen Bezug genommen wird. Zudem wurde ein Sachregister nicht für notwendig befunden, obwohl es sich um einen Fachtext handelt. Die Verlage degenerieren so zu Druckanstalten und noch nicht einmal das bekommen sie hin.

Im Verlagsvertrag geht es vor allem um die Nutzungsrechte des Verlags, der sich alle erdenklichen Rechte für beliebige Vervielfältigungen, Verbreitungen, Bearbeitungen und sonstigen Verwertungen sichert, aber von Autorenrechten ist wenig die Rede. Meines Erachtens verstößt der Schwarz-weiß-Druck gegen den §14 des Verlagsrechts: „Der Verleger ist verpflichtet, das Werk in der zweckentsprechenden und üblichen Weise zu vervielfältigen und zu verbreiten. Die Form und Ausstattung der Abzüge wird unter Beobachtung der im Verlagshandel herrschenden Übung sowie mit Rücksicht auf Zweck und Inhalt des Werkes von dem Verleger bestimmt.“

Sollte ich noch ein Buch schreiben, werde ich es keinem Verlag mehr anvertrauen, sondern als E-Book oder Book on Demand vertreiben. Verdienen kann man ohnehin kaum etwas, wenn es sich nicht um einen Bestseller handelt. (17.07.2023)

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Möglicherweise anstößig

Bei einer Recherche habe ich ein Gemälde von Artemisia Gentileschi gesucht: „Danae“. Die Malerin des italienischen Barock hatte einen durchaus weiblichen Blick auf mythische und biblische Themen und malte vor allem selbstbewusste und tatkräftige Frauen.  Zu meiner Überraschung fand ich das Gemälde zuerst nicht, bis ich die Meldung entdeckte, dass SafeSearch das Bild als „möglicherweise anstößig“ unkenntlich gemacht hatte. Auch etliche andere Bilder der Malerin, auf denen weibliche Akte zu sehen sind, wurden als „anstößig“ gekennzeichnet. Soweit sind wir also schon, dass das Gemälde einer nackten Frau als nicht mehr zumutbar gilt. Bald dürfen wir wohl auch keine Putti mit ihren hübschen Popöchen mehr anschauen. In Florida wurde eine Abbildung der David-Statue von Michelangelo als pornografisch bezeichnet. Der Schutz vor Anstößigem wirkt zudem albern, da man ohne weiteres die übelsten Pornos im Internet finden kann. (12.07.2023)

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Bauarbeiten

Dieses Piktogramm habe ich am Anhänger eines Baufahrzeugs entdeckt. Keine Ahnung, was er bedeuten soll, auch die negative Bildsuche ergab keinen Treffer. Foto: St.-P. Ballstaedt (10.07.2023)

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Männerhumor

Mir ist auch schon aufgefallen, dass Frauen auf Witze anders reagieren: Sie finden viele gar nicht witzig oder oft diskriminierend, da Witze oft auf Kosten einer sozialen Gruppe gehen. Jetzt liegt dazu eine empirische Studie der Psychologin Silvana Weber vor. Wie die Studie abgelaufen ist, kann man hier nachlesen. Die Befunde sind interessant: Tatsächlich finden Frauen Witze insgesamt weniger lustig als Männer. Das gilt besonders für Witze, die Frauen abwerten, sog. frauenverachtende Witze. Sie werden als Bedrohung erlebt, besonders wenn sie von Männern erzählt werden. Bei Männern ist das aber anders: Sie reagieren auf männerverachtende Witze gelassener und erleben sie nicht als Bedrohung. Die Erklärung: Männer haben prinzipiell einen höheren Status und größere Macht und sehen durch einen Witz ihre Männlichkeit nicht bedroht. 

Mir missfällt der Ausdruck „männerverachtende oder frauenverachtende Witze“. Sottisen über Frauen oder Männer sind oft einseitig, aber doch nicht gleich verachtend! Witze über die Geschlechter kann es nur geben, wenn es zwischen Ihnen Unterschiede gibt, egal ob biologisch oder gesellschaftlich bedingt. Nur wenn es absolut keine Unterschiede gibt, sind Witze, die solche zum Inhalt haben, diskriminierend. Einer der verwendeten Witze: “Wie nennt man einen Mann mit nur einer Gehirnhälfte? – Hochbegabt!“ Da feixt die Feministin, aber ich kann auch darüber lachen, denn ich weiß, welches Stereotyp da bedient wird. (09.07.2023)

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Flaggenkunde

Der Regenbogen ist im Alten Testament ein Symbol des Friedens zwischen Mensch und Gott. Die Regenbogenflagge hat bereits Thomas Müntzer als sozialrevolutionäres Symbol verwendet. Die Geschichte der Regenbogenflagge ist verworren, Anzahl und Anordnung der Farben haben immer wieder gewechselt, ebenso die Bedeutung. Zunächst war es eine Pace-Flagge auf Friedensdemos, dann seit den 1970er Jahren ein Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung. Die Bedeutung wurde dann in Richtung Diversität ausgeweitet: Alle Lebensformen sollten repräsentiert werden.

Die aktuelle Fassung, die Progress Pride Flagge, hat neben dem Regenbogen einen Keil auf der linken Seite mit weiteren Farbstreifen: Schwarz soll die an AIDS erkrankten Personen einschließen, der braune Streifen sind ein Zeichen gegen Rassismus. Weiße, rosa und hellblaue Streifen stehen für Transmenschen. Der violette Ring auf gelbem Grund integriert das Symbol für Intersexuelle Menschen.

Schön bunt, schön divers, aber es gibt sicher noch weitere Gruppen, die sich nicht repräsentiert fühlen und Identitätsprobleme bekommen. Man darf gespannt sein, welche Symbole noch in das Flaggen-Design aufgenommen werden müssen, z.B. asexuelle, pansexuelle, polyamore Menschen. Die bunte Regenbogenfahne hätte alle erdenklichen Lebensvarianten symbolisch repräsentiert, ohne dass jede Gruppe ihr eigenes Zeichen einbringen muss. (01.07.2023)

Jetzt ist sie auch in Tübingen angekommen: die von Valentino Vecchietti entworfene Intersex-Flagge. Quelle: Wikimedia Commons, Foto: St.-P. Ballstaedt

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Toxisch

Diesmal ist mir Eckart Roloff in der FR zuvorgekommen. Er hat eine Glosse über den Sprachgebrauch des Wortes „toxisch“ geschrieben. Es gibt im Deutschen das schlichte Wort „giftig“, aber das klingt nicht so gebildet und streng wie das Lehnwort aus dem Altgriechischen. Es wird bevorzugt im Bereich der menschlichen Beziehungen angewendet. Eine toxische Beziehung ist Gift für einen oder beide Partner. Viele Lebensratgeber und Lifestyle-Magazine haben Listen veröffentlich, welche Warnsignale auf eine toxische Beziehung hinweisen, falls man nicht selbst darauf kommt, dass etwas schief läuft. In einer toxischen Beziehung spielen Egoismus, Beleidigungen, Kontrollsucht, Kränkungen, Erniedrigungen, Liebesentzug, Schuldzuweisungen, Mikroaggressionen, Gewalt eine Rolle. (20.06.2023)

Das Piktogramm eines Schädels mit gekreuzten Knochen steht für giftige Substanzen und Gemische. Auffällig: Der Totenschädel hat sich gegenüber früher geändert. Er gleich jetzt eher einem Affen als einem Menschen. Quelle. Wikimedia Commons

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Onten und Tonkel

„Untenrum“ ist ein Aufklärungskinderbuch, das sexualpädagogisch korrekt sein will. Geschrieben und gezeichnet von zwei Autoren und einer Autorin mit dem Anspruch mit moderner sexueller Bildung aufzuklären.

Es startet mit dem Problem, wie Kinder Wörter für das, „was Leute zwischen den Beinen haben“ finden. Das Angebot an vorhandenen Wörtern ist groß (Muschi, Pimmel, Scheide, Schniedel, Yoni) und der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt (Rüsselchen, Schnecke, Gürkchen). Das Anliegen ist richtig: Um sich offen zu verständigen, braucht man Wörter, nicht nur, wenn es um Schmerzen geht, sondern auch bei Fragen eines möglichen Missbrauchs. Wie die Babys in den Bauch kommen, wird auch thematisiert, wobei hier recht keusch nur eine Zeichnung der korrekten Vereinigung der Genitalien gezeigt wird („Darf ich“ – „Ja, gerne“). Körperspiele werden als natürlich beschrieben, wobei eine Seite allen Formen des Verneinens gewidmet ist, wenn man etwas nicht will.

Aber dann wird es kompliziert, denn auch den Trans-Menschen will man gerecht werden: „Es gibt Jungs mit Vulva und Mädchen mit Penis.“, Onte oder Tonke sind weder Tante noch Onkel! So viel Mühe man sich mit der Bezeichnung der Geschlechtsorgane gemacht hat, hier wird der für Kinder unverständliche Begriff „trans Menschen“ in dieser ungewöhnlichen Schreibweise eingeführt. Hier bin ich didaktisch altmodisch: Erst die biologischen Grundlagen vermitteln, also Frau und Mann, dann die Spielarten der Sexualität. Warum wird nicht zuerst die Homosexualität dargestellt? Dass Männer Männer und Frauen Frauen und manche Personen beide Geschlechter lieben, das wird ein Kind noch verstehen, aber Transsexualität? Warum wird der verbreitete Begriff “divers” nicht eingeführt? Und was ist mit den 60 fluiden Geschlechtsidentitäten, die z. B. in face-Book angeboten werden? Arme Kinder. (08.06.2023)

Das Geschlecht von Lo wird im ganzen Buch nicht gelüftet, sie/er hält immer etwas vor seinen/ihren Intimbereich. Wieder sehr korrekt: Kein Geschlecht wird bevorzugt! Cover-Foto: Steffen-Peter Ballstaedt

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Küssen

Ein Kuss ist ein mit dem Mund durchgeführter Körperkontakt. Küssen als eine Form der intimen Kommunikation ist schon seit langem Objekt verschiedener Forschungen (Philematologie).

Neue Erkenntnisse standen vor einigen Tagen in allen Zeitungen. Der Assyriologe Troels Pank Arbøll von der Universität Kopenhagen hat auf einer Tontafel einen Beleg für das Küssen bereits vor 4500 Jahren gefunden. Ethnologen überrascht das wenig, denn sie vermuten eine biologische Grundlage des Küssen, das in zahlreichen Varianten in fast allen Kulturen vorkommt. Bei etlichen Tierarten, auch bei Schimpansen, wird Nahrung von Mund zu Mund weiter gegeben, dieses Kussfüttern hat der Ethnologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt auch in vielen Kulturen dokumentiert, er hält das Küssen für eine ritualisierte Nahrungsübergabe.

Evolutionär interessant ist das Küssen als wechselseitiger Austausch von Hormonen und von Geschmack und Geruchsmolekülen, die offenbar die Immunfähigkeit des Partners/ der Partnerin anzeigen. Der Kuss ist ein Check, ob man sich in der Immunität gut ergänzt, was für mögliche Nachkommen die Lebenserwartung steigert. Küssen löst auch dieProduktion von Hormonen an, z.B. von Oxytocin. Ein chemisches Feuerwerk läuft also beim Küssen ab, allerdings auch die Übertragung von Krankheiten über den Speichel.

Für die Biologen spannend bleibt aber die Frage, warum in einigen Kulturen nicht von Mund zu Mund geküsst wird oder man den der Kuss sogar als unappetitlich ablehnt. (29.05.2024)

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Eingefleischt

Heute lese ich im Schwäbischen Tagblatt den Satz: „Ein eingefleischter Vegetarier geht nicht in eine Metzgerei.“ Das Adjektiv „eingefleischt“ hat es mir angetan, eine Wortbildung wie „eingemacht“, „eingestellt“, „eingerichtet“. Das sind Ableitungen der Verben „einmachen“, „einstellen“, „einrichten“. Aber gibt es das Verb „einfleischen“? Im Duden und im Leipziger Wortschatz nicht, aber wieder einmal im Grimm’schen Wörterbuch. Das Wort gibt es im Althochdeutschen als „infleiscan“, offenbar eine Übersetzung des lateinischen „incarnare = zu Fleisch werden“, ein Verb, das es im Spätlatein nicht gibt, das aber im Mittelalter als Wort gebraucht wurde, um die Fleischwerdung bzw. Einfleischung Gottes in Jesus zu benennen. Derartige neue Wortbildungen werden als Mittellatein bezeichnet. Das Partizip „eingefleischt“ wird oft gebraucht, z.B. bei Luther, Wieland, Goethe, Pestalozzi. Es hat die Bedeutung „in Fleisch und Blut übergegangen“, „unverbesserlich“, „fest überzeugt“ angenommen. (11.05.2023)

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