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Onten und Tonkel

„Untenrum“ ist ein Aufklärungskinderbuch, das sexualpädagogisch korrekt sein will. Geschrieben und gezeichnet von zwei Autoren und einer Autorin mit dem Anspruch mit moderner sexueller Bildung aufzuklären.

Es startet mit dem Problem, wie Kinder Wörter für das, „was Leute zwischen den Beinen haben“ finden. Das Angebot an vorhandenen Wörtern ist groß (Muschi, Pimmel, Scheide, Schniedel, Yoni) und der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt (Rüsselchen, Schnecke, Gürkchen). Das Anliegen ist richtig: Um sich offen zu verständigen, braucht man Wörter, nicht nur, wenn es um Schmerzen geht, sondern auch bei Fragen eines möglichen Missbrauchs. Wie die Babys in den Bauch kommen, wird auch thematisiert, wobei hier recht keusch nur eine Zeichnung der korrekten Vereinigung der Genitalien gezeigt wird („Darf ich“ – „Ja, gerne“). Körperspiele werden als natürlich beschrieben, wobei eine Seite allen Formen des Verneinens gewidmet ist, wenn man etwas nicht will.

Aber dann wird es kompliziert, denn auch den Trans-Menschen will man gerecht werden: „Es gibt Jungs mit Vulva und Mädchen mit Penis.“, Onte oder Tonke sind weder Tante noch Onkel! So viel Mühe man sich mit der Bezeichnung der Geschlechtsorgane gemacht hat, hier wird der für Kinder unverständliche Begriff „trans Menschen“ in dieser ungewöhnlichen Schreibweise eingeführt. Hier bin ich didaktisch altmodisch: Erst die biologischen Grundlagen vermitteln, also Frau und Mann, dann die Spielarten der Sexualität. Warum wird nicht zuerst die Homosexualität dargestellt? Dass Männer Männer und Frauen Frauen und manche Personen beide Geschlechter lieben, das wird ein Kind noch verstehen, aber Transsexualität? Warum wird der verbreitete Begriff “divers” nicht eingeführt? Und was ist mit den 60 fluiden Geschlechtsidentitäten, die z. B. in face-Book angeboten werden? Arme Kinder. (08.06.2023)

Das Geschlecht von Lo wird im ganzen Buch nicht gelüftet, sie/er hält immer etwas vor seinen/ihren Intimbereich. Wieder sehr korrekt: Kein Geschlecht wird bevorzugt! Cover-Foto: Steffen-Peter Ballstaedt

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Küssen

Ein Kuss ist ein mit dem Mund durchgeführter Körperkontakt. Küssen als eine Form der intimen Kommunikation ist schon seit langem Objekt verschiedener Forschungen (Philematologie).

Neue Erkenntnisse standen vor einigen Tagen in allen Zeitungen. Der Assyriologe Troels Pank Arbøll von der Universität Kopenhagen hat auf einer Tontafel einen Beleg für das Küssen bereits vor 4500 Jahren gefunden. Ethnologen überrascht das wenig, denn sie vermuten eine biologische Grundlage des Küssen, das in zahlreichen Varianten in fast allen Kulturen vorkommt. Bei etlichen Tierarten, auch bei Schimpansen, wird Nahrung von Mund zu Mund weiter gegeben, dieses Kussfüttern hat der Ethnologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt auch in vielen Kulturen dokumentiert, er hält das Küssen für eine ritualisierte Nahrungsübergabe.

Evolutionär interessant ist das Küssen als wechselseitiger Austausch von Hormonen und von Geschmack und Geruchsmolekülen, die offenbar die Immunfähigkeit des Partners/ der Partnerin anzeigen. Der Kuss ist ein Check, ob man sich in der Immunität gut ergänzt, was für mögliche Nachkommen die Lebenserwartung steigert. Küssen löst auch dieProduktion von Hormonen an, z.B. von Oxytocin. Ein chemisches Feuerwerk läuft also beim Küssen ab, allerdings auch die Übertragung von Krankheiten über den Speichel.

Für die Biologen spannend bleibt aber die Frage, warum in einigen Kulturen nicht von Mund zu Mund geküsst wird oder man den der Kuss sogar als unappetitlich ablehnt. (29.05.2024)

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Eingefleischt

Heute lese ich im Schwäbischen Tagblatt den Satz: „Ein eingefleischter Vegetarier geht nicht in eine Metzgerei.“ Das Adjektiv „eingefleischt“ hat es mir angetan, eine Wortbildung wie „eingemacht“, „eingestellt“, „eingerichtet“. Das sind Ableitungen der Verben „einmachen“, „einstellen“, „einrichten“. Aber gibt es das Verb „einfleischen“? Im Duden und im Leipziger Wortschatz nicht, aber wieder einmal im Grimm’schen Wörterbuch. Das Wort gibt es im Althochdeutschen als „infleiscan“, offenbar eine Übersetzung des lateinischen „incarnare = zu Fleisch werden“, ein Verb, das es im Spätlatein nicht gibt, das aber im Mittelalter als Wort gebraucht wurde, um die Fleischwerdung bzw. Einfleischung Gottes in Jesus zu benennen. Derartige neue Wortbildungen werden als Mittellatein bezeichnet. Das Partizip „eingefleischt“ wird oft gebraucht, z.B. bei Luther, Wieland, Goethe, Pestalozzi. Es hat die Bedeutung „in Fleisch und Blut übergegangen“, „unverbesserlich“, „fest überzeugt“ angenommen. (11.05.2023)

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Versimpelt

2011 kam ein dtv-Atlas zur Philosophie heraus, es war der Versuch, philosophische Begriffe und Gedanken zu visualisieren: rechts eine Seite Text, links die dazugehörigen Bilder. Ein gewagtes Unternehmen, das auch sofort heftiger Kritik ausgesetzt war. Der Redakteur der FAZ Gustav Seibt titelte: „Arbeit am Schwachsinn. Die neueste Anmaßung der Didaktik. Fastfood-Philosophie in vielen bunten Bildern“. Tatsächlich sind die vielen Charts teilweise trivial, teilweise kreativ, aber insgesamt nicht überzeugend.

Jetzt liegt ein weitere Versuch vor: „Simply Philosophie. Wissen auf den Punkt gebracht“, eine Übersetzung aus dem Englischen, die sich auch an der Visualisierung abstrakter Begriffe und Gedanken versucht, aber hier geht es sehr simpel zu.

Ein Beispiel: der sicher nicht einfache Begriff „Dialektik“. Im dtv-Atlas ein Chart, das die Beziehungen von These, Antithese und Synthese repräsentiert. Mit dem dazugehörigen Begleittext, der das dialektische Denken beschreibt, kann das Bild zumindest als Erinnerungshilfe dienen, obwohl die Anordnung etwas ungewohnt ist. – In der Simply-Variante ist die Visualisierung aber so primitiv, dass sie sogar irreführend ist. Das Venn-Diagramm legt nahe, dass die Synthese eine Schnittmenge vonThese und Antithese ist, dabei geht aber Prozess des Aufhebens verloren. (10.05.2023)

Zwei Visualisierungen der Dialektik, die eine bemüht, die andere einfältig. Scan: St.-P. Ballstaedt

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Einbahnstraße

Ein aufmerksamer Zeichen-Scout hat diese Fotos aus Rom mitgebracht. Vielen Dank für die Erlaubnis, sie zeigen zu dürfen. Fotos: Josef Englert (06.05.2023)

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Wortvermeidung

Immer schon hat es Versuche gegeben, anstößige Wörter zu vermeiden. Manchmal reichen ein paar Auslassungspunkte, sozusagen als Lückentest zur  Anregung für das Gehirn, meist wird dem Gedächtnis mit dem Anfangsbuchstaben nachgeholfen. So wird das Götz-Zitat in feinsinnigen Klassikerausgaben so abgedruckt: „Er aber, sag’s ihm, er kann mich im A….. lecken!“ 

Derzeit verwendet man für Wörter, die man nicht mehr benutzen möchte, eine Vermeidungsformel, z.B. das N-Wort. Natürlich denkt sich dabei jeder das verdeckte Wort und die Gesinnung wird sich dadurch auch nicht ändern. Aber man sollte schon aus Höflichkeit die Personen so ansprechen, wie sie angesprochen werden wollen. Das betrifft das M-Wort, das Z-Wort und das I-Wort. Anders verhält es sich mit politischen Vermeidungswörtern, die nicht auf Personen zielen. Z. B. darf das Wort „Krieg“ in Russland in Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine nicht benutzt werden, in der Türkei ist das Wort „Genozid“ im Zusammenhang mit dem Massaker an den Armeniern nicht erwünscht.

Von der K-Frage sind wir noch einige Zeit entfernt, nur Markus Söder steht im Verdacht, eine Antwort darauf zu haben.

Das f-Word ist nur noch in Amerika nicht salonfähig, bei uns ist es in die Alltags- und die Literatursprache eingegangen. Bei englischsprachigen Songtexten wird es aber noch diskret mit einem Piepsen überdeckt. (04.05.2023)

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Kulturelle Aneignung

Ein Seniorinnen-Balletts der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sollte  bei der Bundesgartenschau in Mannheim mit einem Programm »Weltreise mit dem Traumschiff« auftreten. Dabei werden vierzehn Länder durch verschiedene Kostüme symbolisiert. Natürlich sind derartige Kostümierungen klischeehaft und bedienen kulturelle Stereotype, aber man hat die Keule der kulturellen Aneignung hervorgeholt: „Wir sollen die spanischen Flamenco-Kostüme, den orientalischen Tanz, den mexikanischen Tanz mit Sombreros und Ponchos, den japanischen Tanz mit Kimonos, den indischen mit Saris und den ägyptischen Tanz, in dem wir als Pharaoninnen verkleidet sind, nicht zeigen“, so Erika Schmaltz, die Chefin der AWO-Truppe. Man hat sich auf einige lächerliche Änderungen geeinigt. So muss z.B. jetzt ohne Sombrero getanzt werden. Ein Sombrero ist also nicht korrekt, darf ich dann zum Frühlingsbeginn meinen Panama-Hut aufsetzen, der an sich schon ein Beispiel für kulturelle Aneignung ist, denn die Hüte stammen nicht aus Panama, sondern aus Ecuador.

Die Menschheitsgeschichte lässt sich als Austausch zwischen Kulturen und Vermischung von Kulturen schreiben: Artefakte, Kunst, Musik, Architektur, Rituale, Kulturtechniken, Ernährung, Bekleidung usw. Die Vorstellung von Kulturen als geschlossene Systeme, die rein bleiben und nicht durchmischt werden dürfen, ist nicht nur falsch, sondern reaktionär. Die meisten Übernahmen drücken sogar eine Wertschätzung oder sogar Solidarität aus (Räucherstäbchen, Dreadlocks, Irokesenschnitt, Palästinensertuch, Mokassins, Döner). Natürlich gibt es auch Albernheiten und satirische Übernahmen, z.B. fette, reiche Scheichs im Karneval. Und sind nicht auch die nachgestellten Oktoberfeste in Amerika und Asien mit Dirndl und Lederhosen eine freche kulturelle Aneignung? (20.04.2023) 

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Fresszettel

Wer dem Ursprung des Wortes „Fresszettel“ nachgeht, der landet wieder bei den Andachtsbildchen: Ab dem 18. Jahrhundert gab es briefmarkenformatige Schluckbildchen als Bestandteil einer religiösen Hausapotheke. Sie wurden in ganzen Bögen auf leichtem Papier gedruckt, um in Wasser aufgeweicht oder in Speisen beigegeben nicht im Hals stecken zu bleiben. Die Zettel gab es in Wallfahrtsorten, in Klöstern oder bei fahrenden Quacksalbern. Sie sollten nach Verzehr vor Krankheiten schützen oder sie heilen: „Fieber bleib aus/ N.N. ist nicht zu Haus“ stand z.B. auf einem Fresszettel, auf dem der Name des Kranken eingeschrieben war. Auch das Vieh musste derartige Papier-Medikamente schlucken. Die Kirchen billigten den volkstümlichen Brauch, sofern er nicht mit Aberglauben verbunden war. (17.04.2023)


Ein Bogen Schluckbildchen mit christlichen Motiven zum Ausschneiden für verschiedene Anlässe, vermutlich 19. Jahrhundert oder früher. Quelle: Wikimedia Commons.

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Andachtsbildchen

Am 22.05.2014 habe ich diesen Blog mit dem Thema Leidbilder gestartet, mir hat das Wortspiel Leitbild versus Leidbild gefallen. Kleine Bildformate haben mich schon immer fasziniert, z.B. Sammelbildchen oder Briefmarken als wohl kleinste visuelle Kommunikation. Ein weiteres Beispiel sind die Andachtsbildchen für Gläubige.

Größere Andachtsbilder kannten schon die mittelalterlichen Gläubigen, vermutlich gingen Anregungen dazu von den Ikonen aus (so Hans Belting). Im 14. Jahrhundert wurden vor allem in Frauenklöstern kleine Bildchen auf Pergament, Papier oder Stoff gemalt als dekorative Einlage für das Gebet- oder Gesangbuch. Die Bildchen wurden zu einer guten Einnahmequelle der Klöster und es wurde reger Handel damit getrieben. Für gehobene Stände wurden im 17. Jahrhundert aufwendige Bildchen mit Papierschnitt und Spitzen hergestellt. Mit Erfindung des Holzschnitts und des Kupferstichs verbreiteten sich Heiligenbildchen in hohen Auflagen und auch die künstlerische Qualität wurde besser.

Das gedruckte Andachtsbildchen kam im 19. Jahrhundert auf. Meist ohne künstlerischen Anspruch wurden Motive aus der christlichen Ikonografie verwendet: Stationen aus dem Leben und Leiden Jesu Christi, Mariens und der Heiligen, Schutzengel, das Lamm Gottes, religiöse Symbole wie z.B. das Herz Jesu oder das Kreuz.Die Bildchen dienten für die kleine Andacht zwischendurch zur frommen Erbauung außerhalb der Kirche. Es gab Verlage für religiöse Druckkunst, die zu jedem Fest des Kirchenjahres oder als Andenken an eine Wallfahrt Bildchen herausgaben.

Eine Sammlung von Andachtsbildchen befindet sich im Ethnografischen Museum in Breslau (Sammlung Nikolaus von Lutterotti). Im April 2023 wird in der Diözesanbibliothek Rottenburg eine Ausstellung eröffnet, die den Andachtsbildchen gewidmet ist. Im Web gibt es einen üppiges Angebot an Andachtsbildchen, z.B. bei holyart.de. (16.04.2023)

Prägebild mit eingeklebter Chromolithographie aus dem Jahr 1896. Andachtsbild aus dem Jahr 1918: Frauen am offenen Grab Jesu. Quelle: Wikimedia Commons. Andachtskreuz aus dem Gesangbuch. Scan: St.-P. Ballstaedt

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KI-Literatur

Keine Tageszeitung, in der derzeit nicht ein Artikel über Anwendungen, Möglichkeiten, und Grenzen von Chatbots zu lesen ist. Gestern einText, in dem sich Schriftstellerinnen und Lektorinnen dazu äußern, wie sich die Literaturproduktion durch KI verändern wird (FR 5.4.2023). Zwei Anwendungen werden diskutiert:

1. Die Analyse und Bewertung vorhandener Manuskripte mit Textanalyse-Software. Meine wissenschaftlichen Texte habe ich schon mit TextLab prüfen lassen. Es untersucht vor allem Parameter der Verständlichkeit wie z.B. Wortlänge, Satzkomplexität, Schachtelsätze usw. Das Programm macht mich auf lange und unübersichtliche Sätze aufmerksam. Zur Überarbeitung im Korrektorat und Lektorat kann das Programm durchaus nützlich sein. Allerdings ist Verständlichkeit kein sinnvolles Kriterium für Literatur. Ein weitergehendes Programm LiSA bewertet Belletristik nach verschiedenen Parametern: sprachliche Muster, Bekanntheit des Themas, Grundkonflikte, Stimmung und Emotionalität eines Textes, Errechnung des Leserpotentials usw. Zur Bewertung dient dann ein Vergleich mit Durchschnittswerten im jeweiligen Genre.

2. Spannender ist die Frage, ob Chatbots literarische Texte schreiben können. Bei einfachen Texten nach bestimmten Schemata, wie z.B. Groschenromanen, stellt nur die Textlänge ein Problem dar, literarische Kunst darf man nicht erwarten. Entscheidend ist hier die Frage: Kann die natürliche Kreativität einer Person durch KI simuliert werden? Und da überrascht es mich, dass Autorinnen sich durchaus die Hilfe von Chatbots vorstellen können, z.B. bei einer Schreibblockade oder zur Ideenfindung mithilfe von Prompting. Oder als kollaboratives Schreiben, bei der Mensch und Maschine abwechselnd zusammenwirken (augmented Creativity).

Mein stärkste Argument gegen hochwerte KI-Literatur: Computer können kombinieren, aber sie können nicht fühlen, es fehlen persönliche Erlebnisse, es fehlt die Empathie. Und es fehlt die Raffinesse, mit der ein Autor/eine Autorin bei seinen/ihren Lesenden das Verstehen rhetorisch anleiten und auch gängeln kann.

Fragen wir ChatGPT selbst, ob Romane in seine Kompetenz fallen: „Als KI-Modell kann ich sicherlich einen Roman schreiben, aber es ist wichtig zu beachten, dass KI-Textgenerierung noch nicht perfekt ist und nicht unbedingt den gleichen kreativen Sinn und das Verständnis für menschliche Emotionen und Erfahrungen aufweist wie ein menschlicher Autor. Es ist auch wichtig zu berücksichtigen, dass ein Roman in der Regel eine komplexe Struktur aufweist, die eine sorgfältige Planung und Entwicklungsarbeit erfordert, um eine zusammenhängende Handlung und gut entwickelte Charaktere zu schaffen. Als KI-Modell könnte ich sicherlich ein grundlegendes Gerüst für eine Geschichte liefern, aber ich würde immer noch auf die Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Autor angewiesen sein, um sicherzustellen, dass die Geschichte lebendig und fesselnd ist und den Leser wirklich mitreißt.“

Das ist doch eine treffende Selbsteinschätzung! (06.04.2023)

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