Über Selfies als neue Form bildlicher Kommunikation habe ich mich bereits ausgelassen und bin zu einer eher negativen Bewertung gekommen: narzisstisches Impression Management, man zeigt sich wie man gesehen werden will. Im Gegensatz dazu habe ich künstlerische Selbstportraits als Erforschung der eigenen Person, als Form der Selbsterkenntnis abgehoben. In der Reihe „Digitale Bildkultur“ ist zu diesem Thema ein Büchlein eines Kunstwissenschaftlers und Medientheoretikers herausgekommen.
Wolfgang Ullrich (2019): Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach.
Ullrich will den negativen Urteilen über Selfies (narzisstisch, nicht authentisch, trivial, Symbol des Kulturverfalls usw.) etwas Positives gegenüberstellen. Wie schon der Untertitel andeutet, wird hier eine andere, recht gewagte Interpretation von Selfies angeboten. Er bezieht sich auf den Soziologen Richard Sennett, der das öffentliche Leben als eine Inszenierung von gesellschaftlichen Rollen ansieht. Der Fotograf oder die Fotografin bringt mit dem Selfie nur eine Rolle zum Ausdruck, hinter einem Selfie versteckt sich das Individuum: „Selfies fungieren dabei als perfekte Fassade des Privaten“(S. 25). Ullrich vergleicht die Selfies mit den Masken des antiken Theaters, hinter denen der Akteur eine Rolle spielte. Bei den Posen, Grimassen, Veränderungen mit Filtern und Stickern muss man die schauspielerische Leistung und die Kreativität würdigen.
Zwei Punkten in der Argumentation von Wolfgang Ullrich möchte ich widersprechen:
Für Ullrich sind Gesichtsausdrücke, Gesten und Posen Artefakte, die in jeder Gesellschaft neu kodifiziert werden, aber das ist so nicht korrekt. Aus den Untersuchungen von Paul Ekman wissen wir, dass die Mimik für elementare Emotionen kulturübergreifend ist, die Gesellschaft kann sie nur mehr oder weniger unter Kontrolle bringen, deshalb wird der Ausdruck von Masken und Emojis interkulturell verstanden
Ullrich sieht in den Selfies „vermündlichte Bilder“ und eine „mündliche Bildkultur“, er zieht damit einen Vergleich zur gesprochenen Sprache. Selfies sind flüchtig wie eine gesprochener Aussage, es gibt visuelle Konventionen und Dialekte. Analog zu Sprachwendungen will er von Bildwendungen sprechen (S.55). An vielen Stellen habe ich dafür plädiert, Sprache und Bilder als zwei verschiedene Zeichensysteme oder Kodes zu behandeln und auseinanderzuhalten und nicht von Bildsprache, Bildgrammatik und dergleichen zu reden, auch wenn es oberflächliche Übereinstimmungen geben mag.
Ullrich wirkt wild entschlossen, den Selfies vor allem Positives zuzusprechen, das ist gegenüber den vielen negativen Urteilen bis zum Kulturverfall durchaus erfrischend. Er sieht in der Kommunikation mit Selfies eine Demokratisierung, da erstmals jede Person selbst Bilder produzieren und veröffentlichen kann. Das ist nicht falsch, obwohl er den Gebrauch von Selfies ein wenig zu hoch ansetzt: „Als Millionen über Millionen weltweit damit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, begann nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte.“ (S. 66) (05.07.2019)
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