Emotionsgemüse

Wer bei einer bestimmten Supermarktkette einkauft, wird seit einige Zeit mit neuen Bezeichnungen für Gemüse und Obst überrascht: Kleine Tomaten sind „Naschperlen“ oder „Mini-Leckerbissen“, Kartoffeln sind „Ackergold“, Zwiebeln sind „Erdperlen“, eine Mango ist ein „Tropentraum“, Zitronen sind „Muntermacher“, Orangen werden als „Sonnenkuss“ oder „Sonnentropfen“ vermarktet. Sie lieben Lebensmittel und geben ihnen deswegen Kosenamen? Die Tomaten schmecken meist wässrig, die Orangen strohig-fad, die Mangos sind meist unreif. Die Bezeichnungen sollen wohl als Euphemismen von der dürftigen Geschmacksqualität ablenken. Die Marketing-Abteilung will mir den „emotionalen Namen“ vermitteln, dass die Früchte etwas ganz Besonderes sind. (04.02.2020)

Hier sind es immerhin noch Tomaten aus Spanien: Aber man muss ja auch im Februar keine Tomaten essen, die meist nach nichts schmecken. Foto: St.-P. Ballstaedt

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Inhalte überwinden

Wieder einmal habe ich ein Leckerli aus der Schweiz mitgebracht: An einem Mast fand ich einen Aufkleber, den Die Partei (Akronym für Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative) in der BRD vertreibt. Slogan: Inhalte überwinden! (31.01.2020)

Was macht dieser Aufkleber in Winterthur? Die Partei wird doch keine schwarzen Konten in der Schweiz unterhalten? Foto: St.-P. Ballstaedt

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Verdeutschungen

Philipp von Zesen (1619 – 1689) war ein Schriftsteller und Dichter, der nicht nur den ersten Barockroman geschrieben hat (Die Adriatische Rosemund), sondern vor allem für Wortschöpfungen und Wortübersetzungen bekannt wurde. Er gründete die Deutschgesinnte Genossenschaft, die zum Ziel hatte, die deutsche Sprache vor Einflüssen von Fremdwörtern zu bewahren. Viele seiner Verdeutschungen von Fremdwörtern haben tatsächlich Eingang in die deutsche Sprache gefunden, viele haben es aber nicht geschafft.

Hier eine Liste erfolgloser Verdeutschungen:

  • Entgliederkunst für Anatomie
  • Jungfernzwinger für Nonnenkloster
  • Meuchelpuffer für Pistole
  • Tageleuchter für Fenster
  • Scheidekunst für Chemie
  • Scheidezeichen für Komma
  • Krautbeschreiber für Botaniker
  • Schweisslöcher für Poren
  • Wortglied für Silbe
  • Lustgetöne für Musik

Hier eine Liste erfolgreicher Verdeutschungen:

  • Beifügung für Apposition
  • Bücherei für Bibliothek
  • Briefwechsel für Korrespondenz
  • Emporkömmling für Parvenü
  • Wahlspruch für Devise
  • Lustspiel für Komödie
  • Tagebuch für Journal
  • Kreislauf für Zirkulation
  • Leidenschaft für Passion

In vielen meiner Beiträge habe ich Absonderlichkeiten der Sprache behandelt. Jetzt ist ein Buch erschienen, das ich selbst gern zusammengestellt hätte:

Thomas Böhm & Carsten Pfeiffer (Hrsg.); Die Wunderkammer der deutschen Sprache. Gefüllt mit Wortschönheiten, Kuriositäten, Alltagspoesie und Episoden der Sprachgeschichte. Berlin: Verlag Das kulturelle Gedächtnis, 2019.

Wirklich eine Fundgrube für Sprachliebhaber, dazu grafisch anspruchsvoll präsentiert (2xGoldstein+Schöfer). Foto: St.-P. Ballstaedt (25.01.2020)

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Intimacy coordinator

Viele Schauspieler und Schauspielerinnen haben berichtet, dass für sie Sexszenen recht unangenehm und peinlich sind. Wem macht es auch schon Spaß, vor laufenden Kameras und dem Aufnahmestaff intim zu werden, zudem oft für viele Takes hintereinander. Eine Liebesszene ist ein psychisch schwierige Kommunikation zwischen den Akteuren.

Seit 2016 gibt es im Staff die Rolle des Intimacy coordinator, nicht zu verwechseln mit dem Intimacy choreographer, die oder die den Ablauf der intimen Szenen entwirft. Der Koordinator ist eine Art Supervisor, der auf das Einhalten bestimmter Regeln achtet:

  • Sinn und Stellenwert der erotischen Szene in der Story muss allen Beteiligten klar sein.
  • Die Akteure müssen der vorher festgelegten Choreografie und auch dem Grad der Nacktheit zustimmen.
  • Die Akteure dürfen mit einem Zeichen signalisieren, wenn sie die Aufnahme unterbrechen wollen.
  • Die Akteure werden vor und nach der Szene betreut, vor allen wenn es um Gewalt oder starke Gefühle geht

Meine liebste Sexszene läuft in „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ zwischen Julie Christie und Donald Sutherland ab (Regie Nicloas Roeg, 1974). Sie ist so eindrücklich, dass Publikum und Kritiker sie für real und nicht gespielt hielten. Die Darsteller haben das vehement dementiert.

Übrigens: Wenn ein oder eine Intimacy Coordinator gerade nicht für einen Film gebraucht wird, könnte er oder sie in vielen Schlafzimmern hilfreich wirken. (18.01.2020)

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Adieu Plastiktüte

Unter diesem Titel werden im Museum für Alltagskultur im Schloss Waldenbuch zwei Privatsammlungen mit insgesamt fast 50.000 Plastiktüten gezeigt, nicht alle auf einmal, sondern alle vier Wochen eine Auswahl zu unterschiedlichen Themen.

Am 1.6.2016 habe ich in einem Beitrag über Papiertüten das Ende der Plastiktüte angekündigt, dass es aber so schnell gehen würde, das habe ich nicht geahnt. Heute wird man im Supermarkt, Kaufhaus oder Wochenmarkt schief angeschaut, wenn man eine Plastiktüte verlangt. Plastiktüten sind zum Symbol der Konsum- und Wegwerfgesellschaft geworden, mit denen man als Werbeträger in der Öffentlichkeit herumgelaufen ist. Auslöser waren die schockierenden Fotos von riesigen Wolken von Plastik in unsere Ozeanen.

Sehr schön, dass einige Personen auf die Idee gekommen sind, diese Kulturobjekte zu sammeln. Die Tüten sind oft grafisch anspruchsvoll gestaltet, mit Bildern, Logos, Schriftzügen, Claims. Wie bei vielen Gegenständen des Alltags sind die Designer meist vergessen. (16.01.2020)

Plastiktüten an den Wänden, auf den Krabbeltischen und in Plastikcontainern. Fotos: St.-P. Ballstaedt

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Drachenschlange

Alfa Romeo ist nicht nur ein schöner Name für einen Autobauer, das Firmenlogo ist auch etwas Besonderes. Ein Exemplar habe ich an einer Garagentür in Tübingen gefunden. Seit 1910 gab es sechs Versionen des Logos, wie so oft von konkreter zu schematisierter Darstellung, dieses Logo verzierte die Autos  von 1972 bis 1999.

Ein blauer Kreis mit dem Firmen-Schriftzug, darin ein zweigeteilter Kreis. Links das rote Kreuz ist das Stadtwappen von Mailand, rechts ist eine drachenartige Schlange oder ein schlangenartiger Drachen abgebildet, die oder der – und da muss man genau hinschauen – eine menschliche Figur im Maul hat. Diese Darstellung stammt aus dem Wappen der mächtigen Familie Visconti aus Mailand. Das Tier heißt im Italienischen Biscione. Die Herkunft der Darstellung ist unklar, es gibt verschiedene Deutungen. Eine Variante behauptet, dass die Person nicht verschlungen, sondern ausgewürgt oder eleganter aus dem Maul geboren wird. Auf der Homepage der Firma liest man aber, dass es sich um eine „feindverschlingende Drachenschlange“ handelt. (10.01.2020)

Biscione auf dem Wappen der Visconti am Piazza del Duomo in Mailand. Das Schlangendrachenmotiv auf dem Logo von Alfa Romeo an einer Tübinger Garage. Quellen: Wikimedia Commons, Giovanni dall’orto; St.-P. Ballstaedt.

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Hass-Sprache

Natürlich müssen Beleidigungen, Aufrufe zur Gewalt, Morddrohungen, Holocaustleugungen usw, die in der analogen Kommunikation unter Strafe stehen, auch in der digitalen Welt verfolgt werden. Sie darf kein rechtsfreier Raum sein. Deshalb ist die geplante Verschärfung des Strafrechts konsequent. Anonyme Hetze ist widerlich und inhuman. Nur zwei Bedenken: Die Grauzone zwischen erlaubten Sätzen und kriminellen Sätzen ist echt groß und schwer bestimmbar. Wer zieht die Grenze? Man denke nur an die Bezeichnungen für Frau Künast, die von der Justiz als freie Meinungsäußerungen durchgewinkt wurden. Als Kommunikationswissenschaftler ist mir bei Sprachverboten aber grundsätzlich nicht ganz wohl. Durch Sprachverbote und Löschen von Beiträgen verschwindet der Hass ja nicht, er wird nur einer Ausdrucksform beraubt und in den Untergrund verwiesen. Mir ist es allemal lieber, ich kann erkennen, von welchen Gesinnungen und Mentalitäten ich umgeben bin.

Einen ganz anderen Blick auf die Hass-Sprache hat der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer in seinem Buch: „Mit Dolchen sprechen: Der literarische Hass-Effekt“. Er untersucht die Ästhetik und Rhetorik literarischer Hasstiraden von Shakespeare über Strindberg bis Houellebecq. Das ist mutig in Zeiten der political correctness und nur möglich, weil er den Hass als exzessive menschliche Emotion völlig von politischen und gesellschaftlichen Prozessen abtrennt. Literaturwissenschaft im Elfenbeinturm. Von einer „poetologischen Signifikanz“ des Hasses kann man im Internet wohl kaum sprechen. (09.01.2020)

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Umweltsau

Da lässt der WDR seinen Mädchenchor fröhlich eine Persiflage auf ein altes Kinderlied trällern und ein Sturm der Entrüstung braust durch die Medien. Denn der Refrain, den die Kids mit sichtbarer Freude intonieren, lautet nicht „Meine Oma ist ne ganz patente Frau“, sondern „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“:

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, Motorrad, Motorrad. Das sind 100 Liter jeden Monat. Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau

Der Leiter des Chors entschuldigt sich, der Intendant Tom Buhrow entschuldigt sich, die AfD versammelt sich vor dem Rundfunkgebäude zu einer Kundgebung (spätestens da sollte man aufmerken), in den sozialen Medien wird geschimpft. Man vermisst den Respekt gegenüber den Älteren, seine Großeltern darf man nicht als Säue bezeichnen (Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann, CDU), „Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel.“ (Armin Laschet, CDU). Franz Josef Wagner von der BILD verlangt die Entlassung der Verantwortlichen, auch von Tom Buhrow! Es gibt Morddrohungen gegen WDR-Mitarbeitern.

Generationen von Karnevalisten gröhlten: „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“, auch das eine Diskriminierung von Alten und Familienangehörigen. Und was ist mit den vielen Opa-und-Oma-Witzchen, das geht gar nicht mehr! Sorgt endlich für anständige Witze! Richtet eine Witzpolizei ein, der man jeden Scherz zur Genehmigung einreichen muss! (31.12.2019)

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Jahresendwitz

Bevor das Jahr zu Ende geht, muss ich noch einen schlampigen Wortgebrauch bei mir zur Anzeige bringen. Er betrifft meine Beitragsserie „Historischer Humor“, in der ich zeigen möchte, dass auch das Lachen historisch bedingt ist. Meine Beispiele sind aber meist Witze und selten Humor. Worin besteht der Unterschied?

Humor ist eine Lebenseinstellung oder ein Persönlichkeitszug: Sich nicht so wichtig nehmen, Distanz zu sich halten, Schwächen eingestehen, negative Erfahrungen gelassen hinnehmen und dementsprechend heiter und abgeklärt mit den Gegebenheiten des Lebens umzugehen. Treffend das Bonmot des ansonsten vergessenen Dichters Otto Julius Bierbaum (1865–1910): Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Witze sind primär eine Textsorte, es gibt aber auch reine Bildwitze und Textbildwitze. Witze gehen frech mit Tabus um, mit Sex, Alter, Tod, Gesundheit, Behinderung, Religion, Prominenz usw. Witze können böse und gemein sein und sie pfeifen auf political correctnes, die Skala reicht von platten bis zu geistreichen Witzen. Es gibt dreckige Witze, aber keinen dreckigen Humor. Jemand kann gut und oft Witze erzählen ohne Humor zu haben. Es gibt ausgesprochen humorlose Witze.

Nach dem Journalisten Harald Keller (TAZ) gibt es auch Jahresendwitze, sie haben Restpostenqualität – nach dem Motto „alles muss raus“. Hier mein Jahresendwitz:

Warum sind in dreißig Jahren alle holländischen Fußballtrainer arbeitslos?- Weil die Holländer dann nur noch Wasserball spielen. (30.12.2019)

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Infografiken

In der Frankfurter Rundschau  vom 28./29.12. bespricht Arno Widmann ein Buch, das auch ich mit Begeisterung durchgeblättert habe:

Sandra Rendgen/Julius Wiedemann: History of Information Graphics. Köln: Taschen Verlag, 2012.

Das Buch ist dreisprachig und präsentiert in hervorragenden und großflächigen Reproduktionen Beispiele für Informationsgrafiken.

Dabei stellt sich gleich die Frage ein, was eine Infografik genau ist und wie sie sich von anderen visuellen Kommunikationsformen wie Diagramme, Charts oder Karten abgrenzen lässt. Einigkeit besteht daran, dass es eine Kombination von visuellen und sprachlichen Komponenten ist, die der Vermittlung von Wissen dient, wobei meist die visuelle Information dominiert. Gern werden auch die Bezeichnungen Funktions- oder Erklärgrafik verwendet, aber in den meisten Infografiken wird nichts erklärt, sondern es werden komplexe Zusammenhänge visualisiert, d.h. sichtbar gemacht.

Mit der Definition hängt die ebenfalls umstrittene Frage zusammen: Wann ist die Infografik entstanden? Es gibt mehrere Vorschläge für Geburtstage. Wenn man die reine Vermittlung visuellen Wissen ansetzt, dann sind schon die Tierzeichnungen in Höhlen in Altamira Infografiken. Vielleicht bilden sie ja nicht nur die Tiere ab, sondern auch andere Informationen (z.B. Jagdtechniken). Dann werden Rechentafeln und gemeißelte Karten aus der Antike als Ursprung der Infografiken angesehen. Oft wird vergessen, dass auch die Stammbäume einen Typ von Informationsgrafiken bilden, die gibt es bereits im frühen Mittelalter. In diese Zeit fallen auch viele sogenannte diagrammatische Bilder, in denen theologische und kosmologische Theorien visualisiert wurden. Als genaues Geburtsjahr wird oft 1786 genannt, als William Playfair seinen „Commercial and Political Atlas“ mit zahlreichen innovativen Diagrammen veröffentlichte. Als Anlass der Entstehung der journalistischen Infografik wird der 2. Golfkrieg 1990/91 angegeben: Die Zeitung USA Today berichtete in Ermangelung von Fotos mit Grafiken über Truppenbewegungen, Frontverläufe, Wirkungen von Waffen usw. Letztlich ist die Suche nach einem klaren Startpunkt nicht sehr ergiebig, denn auch die Geschichte der Kommunikation verläuft weder linear noch in abgrenzbaren Etappen.

Viele Designer und Mediengestalterinnen preisen diese Vermittlungsform als der Sprache überlegen, wenn es um zum Verstehen komplexer Zusammenhänge geht: „Neben der schnelleren Informationserfassung und -verarbeitung und der längeren Speicherung im Gedächtnis wirken Infografiken motivierend auf den Leser (Bouchon, 2007, S. 40). Das sieht Arno Widmann anders: „Der Vorteil der Infografik liegt gerade nicht in dem, wofür sie gepriesen wird, also nicht im schnellen Überblick, sondern in der Zeit, die wir aufwenden, um uns darüber klar zu werden, was sie uns sagen möchte. Die Infografik ist ein Mittel der Entschleunigung des Lesevorgangs.“ Untersuchungen bestätigen das: Ein schneller Blick reicht nicht aus, eine Infografik muss mit Blickbewegungen durchmustert, Text und Bild müssen integriert werden. Ohne eine Legende und eine Sehanleitung kommen die meisten Infografiken nicht aus. (29.12.2019)

Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus einer Informationsgrafik von 1833, die in Fehlfarben die Lavaströme von 28 Ausbrüchen zwischen 1631und 1831 visualisiert. Sie zeigt, dass alle Lavaabflüsse in Richtung Südwesten abgehen, dieser Bereich also besonders gefährdet ist. Der Bildband wiegt übrigens fast 4 Kilo! Foto. St.-P. Ballstaedt

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